Eine Woche nach dem Aufstand der Wagner-Söldner unter Jewgeni Prigoschin drehte es sich bei „Anne Will“ am Sonntagabend um die Frage: Wie geschwächt ist Russlands Präsident Wladimir Putin?
„Machtkampf in Russland – Chance für die Ukraine?“, hieß es am Sonntagabend bei „Anne Will“. Während sich Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin mittlerweile angeblich im Exil in Belarus befindet, ging es für Kremlchef Wladimir Putin unter der Woche vor allem um Schadensbegrenzung: Ungewohnte Volksnähe war angesagt. Zugleich ist von Säuberungen in den Reihen der eigenen Armee die Rede, mögliche Unterstützer Prigoschins sollen ausgemerzt werden. Die 24 Stunden dauernde Revolte der Söldnertruppe wirft Fragen auf: Wie tief sind die Risse in Putins Herrschaftssystem? Geht von einem geschwächten Präsidenten eine noch größere Gefahr aus? Was bedeuten die Ereignisse in Russland für den Krieg gegen die Ukraine? Und: Sollte Kiew jetzt die konkrete Aussicht auf einen Nato-Beitritt bekommen?
Das diskutierten am Abend bei „Anne Will“ folgende Gäste:
- Ralf Stegner (SPD), MdB und Mitglied im Auswärtigen Ausschuss
- Norbert Röttgen (CDU), MdB und Mitglied im Auswärtigen Ausschuss
- Claudia Major, Politikwissenschaftlerin, Leiterin der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin
- Irina Scherbakowa, russische Historikerin, Mitbegründerin der Menschenrechtsorganisation Memorial
- Michael Thumann, außenpolitischer Korrespondent „Die Zeit“ in Moskau
Dass sämtliche Diskussionen um mögliche Risse in Putins Machtgefüge vornehmlich auch von Hoffnung getragen sind, machte gleich zu Beginn Irina Scherbakowa klar: „Wie tief diese Risse sind, das ist vornehmlich Spekulation“, so die russische Historikerin, die in Deutschland im Exil lebt. Dennoch sei festzustellen, dass jene Angst und Panik, die bei Putin festzustellen waren, zum ersten Mal überhaupt zu Tage traten. Eine ungeahnte Hilflosigkeit, die sich angesichts Prigoschins Alleingang breit machte: „Putin versuchte, ihn anzurufen, und der nahm einfach nicht ab.“ Während nach außen Zusammenhalt demonstriert wurde, rannte die russische Bevölkerung in die Geschäfte, so Scherbakowa, deren Menschenrechtsorganisation Memorial in Russland verboten ist, und kaufte Wasser, Buchweizen und Zucker – „eine über Jahrzehnte verinnerlichte Reaktion angesichts der Gefahr.“PAID IV Folgen von Russland-Meuterei für Putin 09.18
Norbert Röttgen bewertete das Machtsystem Putin als „nicht mehr dasselbe“. Ein Söldnergeneral mit „ein paar tausend Soldaten“ hatte das Regime zum Wackeln gebracht, mit Lukaschenko wurde „ein Vasall zum Dealmaker“, das zeige vor allem eines: „Putin ist nicht unbesiegbar (…) die Machtfrage ist gestellt, und nicht zu Putins Gunsten beantwortet.“
Ralf Stegner versuchte, da etwas den Wind aus den Segeln zu nehmen. „Ich wundere mich über die Sicherheit, in der hier geurteilt wird. Prigoschins Leute sind Söldner, Massenmörder und Ex-Häftlinge. Solche Leute an den Hebeln einer Atommacht? Ein gruseliger Gedanke. Ich wäre vorsichtig im Urteil, was das bedeutet hätte. Und Lukaschenko ist eine Marionette. Ich wäre da skeptisch und glaube erst einmal gar nichts. Der Anfang von Putins Ende ist Wunschdenken.“ Michael Thumann sah es ähnlich, Putin sei nicht angezählt, er stehe nicht vor dem Sturz, dennoch sei diese „größte Invasion seit dem Zweiten Weltkrieg“ eine Episode, die zu einem späteren Zeitpunkt nützlich sein könnte, allein von der Erkenntnis her, mit der Erinnerung an diesen Moment: „Ja, es geht!“
„Das ist nicht in zwei, drei Jahren vorbei“
Einen noch größeren Kontext bot Claudia Major, die das Stichwort von der Stabilitätsdiskussion in die Runde brachte. Genau von dieser müsse man sich freimachen, Putin bringe nichts als Instabilität. Darauf wurde 2014 mit Blick auf die Krim nicht mit der nötigen Entschiedenheit reagiert, ebenso wurde 2022 lange Zeit nicht für möglich gehalten, dass Putin den Krieg gegen die Ukraine beginnen könnte. Sicherheiten oder Prognosen sind oft obsolet. Während alle von der Möglichkeit eines Atomkrieges redeten, wurde stattdessen ein Staudamm gesprengt. „Das haben wir nicht auf dem Schirm gehabt“, so Major, ebensowenig wie die temporäre Wagner-Revolte.
Auf diese Unberechenbarbkeit gelte es, sich einzustellen, militärisch, wirtschaftlich und politisch. Der entscheidende Faktor dafür, dass sich die Politik in Russland ändert: „Der Erfolg der Ukraine“. Man müsse sich jedoch auf „eine sehr lange Phase der Instabilität einrichten. Das ist nicht in zwei, drei Jahren vorbei.“ Einfach werde der Wechsel ohnehin nicht, ein Kollaps sei mit großer Unsicherheit verbunden, die Idee eines demokratischen Russlands liege ohnehin in weiter Ferne.
Am Ende ging es wieder um die Frage: Unterstützt Deutschland die Ukraine ausreichend mit den nötigen Waffen? Während Stegner behauptete, „wir tun, was wir können“, und die angebliche „Eskalationsphobie“ vielmehr als „Vernunft“ bezeichnete, sah Röttgen, der Stegner zwischenzeitlich vorwarf, er würde Putins Narrativ auf den Leim gehen, das völlig anders. Ihm gehe „die Hutschnur hoch“, weil Deutschland nicht genug täte. „Krieg oder Frieden“, das sei hier die Frage. Der Fall Prigoschin habe gezeigt: Wäre die Ukraine schwächer, wäre das so nicht passiert. Die Schwächung Russlands ist der einzige Weg.
Was angesichts des bevorstehenden Nato-Gipfels in Vilnius dann noch einmal die Aufnahme der Ukraine in die Nato aufs Tapet brachte. Was für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj „alternativlos“ ist, für Stegner dagegen mittelfristig unmöglich, umriss Claudia Major als eine durchaus machbare Option, indem etwa zunächst die freien Gebiete unter Nato-Schutz gestellt würden. Das Pochen darauf, den Beitritt überhaupt erst nach Kriegsende in Betracht zu ziehen, gebe Russland nur einen weiteren Grund, endlos weiterzumachen.
Scherbakowa verlieh noch einmal ihrer Verzweiflung darüber Ausdruck, dass man womöglich auch dieses Mal keine Lehren zieht: „Ich sehe die Logik nicht. Wenn man das jetzt nicht macht, was sind die Folgen? Man will immer noch nicht begreifen, was Krieg für Europa bedeutet.“ Die Uno habe versagt, die alte Sicherheitsordnung Europas ist zerstört: „Man muss jetzt den Mut haben, Sicherheitssysteme zu verändern.“
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