Sarah Herrlinger: „Wir wollen nicht 16 Prozent der Menschen ausschließen“: Apple-Managerin verrät, wie man das iPhone für jeden nutzbar macht

Technologie sollte jeder nutzen können – davon ist Sarah Herrlinger überzeugt. Bei Apple soll sie dafür sorgen, dass das auch wirklich funktioniert. Ein Gespräch über Herausforderungen, Chancen – und warum man mit der guten Sache auch Geld verdienen darf.

Für Menschen mit Behinderungen wie Hörverlust oder Blindheit kann Technologie plötzlich völlig neue Türen öffnen. Oder zur unüberwindbaren Hürde werden. Sarah Herrlinger ist bei Apple dafür verantwortlich, dass die Hürden abgebaut und die Potentiale genutzt werden. Der stern konnte mit ihr darüber sprechen, wieso das oft eine Herausforderung ist. Und warum auch alle anderen Nutzer davon profitieren.

Frau Herrlinger, Sie sind bei Apple dafür zuständig, dass die millionenfach verkauften Apple-Produkte auch für Menschen mit Behinderungen nutzbar sind. Wir konnten Sie gerade Gespräch mit Entwicklern an der Apple-Akademie in Neapel erleben. Sie betonten dort, dass man keinen guten Blaubeermuffin backen kann, wenn man die Blaubeeren im letzten Schritt hinzufügen möchte. Wie früh wird Ihr Team dazu geholt, wenn man etwa ein neues iPhone baut?

Barrierefreiheit ist etwas, worüber unsere Teams sehr früh nachdenken. Welche verschiedenen Anwendungsfälle gibt es, auf welche verschiedenen Arten werden Menschen mit diesem Produkt interagieren. Wir achten auch darauf, dass Stimmen aus den verschiedenen Gemeinschaften von Menschen mit Behinderung von Tag Eins gehört werden.

Wie funktioniert das bei einem Konzern wie Apple? Schließlich ist die extreme Geheimhaltung um iPhone und Co. legendär.

Es beginnt schon damit, in allen Unternehmensbereichen auch Mitarbeiter einzustellen, die selbst unsere assistiven Technologien nutzen. Ganz im Sinne des Mottos „Nichts über uns ohne uns“ möchten wir sicherstellen, dass die Perspektiven der täglichen Nutzer im gesamten Prozess vorkommen. Wir arbeiten gezielt mit Organisationen und Einzelpersonen zusammen, die Mitglieder der betroffenen Gemeinschaften sind, um unsere Arbeit weiter auszubauen. Jedes Produkt ist anders, aber der Prozess, Barrierefreiheit von Anfang an mitzudenken, ist ähnlich.

Apple Interview, 19.45

Können Sie Beispiele nennen, bei denen Konzepte oder Ideen nach Anmerkungen aus Ihrem Team überarbeitet werden mussten?

Es geht weniger um ein Überarbeiten, sondern eher die Bereitschaft, kontinuierlich Dinge einfließen zu lassen. Als etwa Face ID noch in der Entstehung war, wurde unser Accessibility Team hinzu geholt und sprach über atypische Anwendungsfälle, wie untypische Gesichtsstrukturen, Augen-Prothesen oder Menschen, die ihre Augen nicht öffnen können. Wenn man den Algorithmus bereits erstellt hat, ist es schwierig den Kurs nachträglich anzupassen. Deshalb sollte man solche Aspekte bereits in der Entstehung mitdenken.

Vom Ergebnis profitieren nicht nur Menschen mit Behinderung. Gibt es Technologien, über die hauptsächlich im Hinblick auf Barrierefreiheit nachgedacht wurde, die dann später aber auch im Mainstream angenommen wurden?

Wir integrieren auf sehr natürliche Weise den Blick auf verschiedene Nutzungsszenarien. Nehmen wir beispielsweise Siri für Menschen, die auf Grund einer Behinderung auf Sprachsteuerung angewiesen sind und auf der anderen Seite Autofahrer, die per Sprachsteuerung und CarPlay ihr Radio bedienen.

Sind Sie manchmal überrascht, wenn von Ihnen entwickelte Features dann auch auf andere Art und Weise genutzt werden?

In 17 Jahren Arbeit im Bereich Barrierefreiheit lernt man, dass jeder seine Stärken und Schwächen hat. Was einer Person helfen soll, kann für eine andere ein Nachteil sein oder zumindest nicht helfen. Darum legen wir auch so viel Wert darauf, alles möglichst personalisierbar zu gestalten. Es gibt Unmengen an Perspektiven, jeder von uns ist einzigartig und nutzt Technologie anders. Anpassbarkeit ist deshalb immer ein Vorteil.

In der Apple Developer Academy in Neapel sprach Sarah Herrlinger mit Software-Entwicklern über Barrierefreiheit und stellte Apple-Funktionen wie Liveuntertitel für Präsentationen vor. Neben ihr waren auch Sprecher von Unternehmen auf der Bühne, die besondere Erfahrung in dem Bereich haben.  "Accessibility ist kein Problem, das isoliert gelöst werden muss. Sondern eine Kultur, die man aufbaut“, erklärte etwa Lina Diaz von Wetransfer. Es gehe darum, besondere Bedürfnisse der Nutzer bei jedem neuen Feature und bei jedem Update im Kopf zu behalten.  Das kann sich aber auch finanziell lohnen, berichtet Jonathan Chacon vom spanischen Unternehmen Cabify. Der Taxi-Service bietet zahlreiche Optionen für Menschen mit Behinderung und erlaubt es etwa, sich vom Taxifahrer gezielt ansprechen zu lassen, wenn man nicht in der Lage ist, das Ankommen des Wagens zu sehen. Die Kunden nehmen das begeistert an: "Wir konnten mehr als 100.000 Kunden durch unsere Accessibility-Features gewinnen."  
In der Apple Developer Academy in Neapel sprach Sarah Herrlinger mit Software-Entwicklern über Barrierefreiheit und stellte Apple-Funktionen wie Liveuntertitel für Präsentationen vor. Neben ihr waren auch Sprecher von Unternehmen auf der Bühne, die besondere Erfahrung in dem Bereich haben. „Accessibility ist kein Problem, das isoliert gelöst werden muss. Sondern eine Kultur, die man aufbaut“, erklärte etwa Lina Diaz von Wetransfer. Es gehe darum, besondere Bedürfnisse der Nutzer bei jedem neuen Feature und bei jedem Update im Kopf zu behalten. Das kann sich aber auch finanziell lohnen, berichtet Jonathan Chacon vom spanischen Unternehmen Cabify. Der Taxi-Service bietet zahlreiche Optionen für Menschen mit Behinderung und erlaubt es etwa, sich vom Taxifahrer gezielt ansprechen zu lassen, wenn man nicht in der Lage ist, das Ankommen des Wagens zu sehen. Die Kunden nehmen das begeistert an: „Wir konnten mehr als 100.000 Kunden durch unsere Accessibility-Features gewinnen.“
© Apple

„Jeder ist anders.“

Ein blinder Gesprächspartner hatte sich mir gegenüber mal beklagt, dass er Sprachnachrichten hasst. Er klagte wie viele sehende Menschen, dass er die Nachrichten lieber mit seinem Braille-Monitor überfliegt, als sie mühselig abzuhören. Damit hätte ich nie gerechnet. Erleben Sie so etwas bei Ihren Gesprächen mit den betroffenen Gemeinschaften häufiger?

Man darf nie annehmen, dass Mitglieder dieser Gemeinschaften alle das Gleiche wollen. Ich habe einen blinden Freund, der Sprachnachrichten liebt. Andere lehnen sie ab. Da gibt es kein richtig oder falsch. Jeder ist anders. Accessibility ist in erster Linie Personalisierung. Es gibt nicht den einen Hebel oder den großen Hammer, mit dem man alles lösen kann. Es geht um die winzig kleinen Optimierungen, die Technologie für dich persönlich besser machen.

Exklusiver Blick: So zeigt Apple das Innere seines neusten iPhones 18.00

Dabei leugnen Sie aber nicht, dass Apple auch Geld damit verdient. Vor den Entwicklern betonten Sie eben, dass auch die Zahlen für ein Engagement in diesem Bereich sprechen – wenn man nicht eine riesige Kundengruppe verlieren will.

Menschen mit Behinderung sind die größte Minderheit der Welt und Teil unser aller Leben. 16 Prozent der Weltbevölkerung als Kunden auszuschließen, ist also nicht gerade eine gute Idee. Wir wollen Produkte für alle. Warum sollten wir diese Dinge also nicht einbauen? Ich weiß aber zu schätzen, dass wir nicht am Erreichen einer Zahl gemessen werden. Wir sehen Barrierefreiheit als Menschenrecht und glauben, dass jeder davon profitieren kann. Und weil wir das glauben, ist es eine ganz natürliche Erweiterung der Art, wie wir Produkte gestalten.
 

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