Nach Wochen der Geheimhaltung ist das neueste Werk von Benjamin von Stuckrad-Barre nun auf dem Markt. Hat sich das Warten gelohnt – und wie viel Wahrheit steckt in dem Buch?
So viel Aufregung und Geheimniskrämerei um ein Buch gab es schon lange nicht mehr: Nicht nur in der Medienbranche war der neue Roman „Noch wach?“ von Benjamin von Stuckrad-Barre mit Spannung erwartet worden, bis zum Veröffentlichungstag drang fast nichts an die Öffentlichkeit. Jetzt ist das Buch auf dem Markt. Aber was steht drin? Und wie brisant ist der Inhalt? „Noch wach?“ im Schnell-Check.
Worum geht es?
Wir befinden uns auf einer wilden Pool-Party im berüchtigten Hotel Chateau Marmont in Los Angeles, in dem gefühlt jeder Hollywoodstar schon einmal abgestiegen ist. Kanye West legt auf, ein paar Gäste plantschen nackt im Pool. „Jemand drehte die Musik auf, klirrende Gläser, Lachen …“: Der Ich-Erzähler beobachtet die Szene, bis er schließlich eine alte Bekannte aus Deutschland wiedertrifft, die gerade – es ist weit nach Mitternacht – Nachrichten von ihrem Chefredakteur bekommt und darüber in Panik gerät. Der Erzähler liest auf dem Handy der Bekannten mit:
Noch wach? Scheiß klimaanlage komm und wärm mich Starke vermissung Bin da
Körper an körper JETZT Wo du?
Kurze Zeit später ist der Ich-Erzähler Teil eines Männerroadtrips, sein Freund, den er als Besitzer eines Berliner „Krawallfernsehsenders“ beschreibt, hat den Ausflug für seine Führungsebene organisiert. In einer Kolonne aus prolligen Karren fahren sie von Los Angeles nach San Francisco. Auch besagter Chefredakteur ist dabei, fährt in einem Hummer voran – einen Hummer zu fahren, darauf hatte er bestanden. Der Freund des Erzählers will von Anschuldigungen gegen seinen Chefredakteur nichts wissen, will keine „Verdachtskultur“ in seinem Unternehmen. Doch der Ruf des Chefredakteurs eilt diesem bereits voraus:
„In Tonlage, Infamie und Dauerhetze ahmte er überdeutlich den amerikanischen Lügenprediger Tucker Carlson nach, SENDERINTERN nannte man ihn, wenn er gerade nicht in der Nähe war: Tucker Carlson für geistig NOCH Ärmere.“ Er schien zu gleichen Teilen aus Wut und Angst (und weiter nichts) zu bestehen und war so überdeutlich auf Macht als Selbstzweck versessen, es ließ einen wirklich schaudern, ihm bei seinem Getobe zuzuhören.“
STERN PAID 17_23 Döpfner Interview Jay Rosen 06.11
Zurück zu der Frau, die die nächtlichen Nachrichten bekam. Was ging ihnen voraus? Hat sie erlebt, was die anderen Frauen erlebt haben, die sich nach und nach dem Erzähler anvertrauen, weil er einen Draht zum Oberchef hat? Hat der schmierige Chefredakteur dieselbe Masche bei der Pool-Frau durchgezogen, wie bei der namenlosen Auszubildenen, die zu Beginn des Buches berichtet? Berichtet, wie der Chef mit ihr in seinem Büro zu Mittag aß. Jeden Tag. Wie er ihr Fotos von seinen Kindern zeigte und von seinem Hund. Wie er sich empathisch gab und sensibel. Wie er ihr Heldenstorys von seiner Zeit als Kriegsreporter erzählte, sie in Teammeetings betont interessiert nach ihrer Meinung fragte, ihr immer wieder sagte, wie sehr er sie schätze.
Zwischen den Geschichten der Frauen denkt der Ich-Erzähler immer wieder an andere überführte und mutmaßliche Missbräuchler: Woody Allen, Kevin Spacey, Bill Cosby und natürlich über Filmproduzent Harvey Weinstein, wegen dem die #metoo-Welle 2017 losrollte. Der Erzähler selbst wird mehr und mehr zur „Beschwerde-Hotline“ für all die Journalistinnen, die Opfer des Chefredakteurs wurden. Er fragt sich: „Was sollt ich denn bitte mit all dem Dreck anfangen?” Geschichten wie diesen:
„Das Ding ist, du kriegst plötzlich übertrieben gute Chancen im Job, und ihr habt diese spezielle Connection, es läuft alles, und er macht das sehr geschickt, es ist nie ganz so eindeutig, also ausgesprochen wird es natürlich niemals. Und dass das alles aber irgendwie schon so ne Art Gegengeschäft ist, das merkst du eigentlich erst, wenn plötzlich Schluss ist, wenn er das Interesse an dir verliert, vielleicht auch, weil du irgendwie unbequem wirst.“
Von Berlin aus springt „Noch wach?” immer mal wieder nach Los Angeles, wo sich Stuckrad-Barre ja schon in seinem Roman „Panikherz” herumtrieb. Und weil sich Los Angeles zwar weit weg anfühlt, ist eine Sache in Bezug auf Missbrauchsskandale sicher als Metapher zu deuten, nämlich der Satz, den der Erzähler während des Roadtrips auf einem Schild liest: „OBJECTS IN MIRROR ARE CLOSER THAN THEY APPEAR.”
Wie brisant ist das?
Dem Buch eilt schon seit Monaten das Gerücht voraus, es handle sich dabei um einen Schlüsselroman in der Causa Reichelt. Der ehemalige Bild-Chefredakteur Julian Reichelt war nach Vorwürfen von Machtmissbrauch im Umgang mit Kolleginnen abgesetzt worden. Reichelt bestreitet die Vorwürfe, bis heute konnte ihm offiziell kein Missbrauch von Macht nachgewiesen werden.
STERN PAID 17_23 Titel Mathias Döpfner Der Querdenker 10.00
Autor Benjamin von Stuckrad-Barre hat selbst eine zentrale Rolle in dem Skandal, war lange mit Springer-Verlagschef Mathias Döpfner befreundet, mehrere betroffene Frauen sollen sich direkt an den Schriftsteller gewandt haben. „Ich habe mich darum nicht beworben, ich habe danach nicht gesucht“, sagt Stuckrad-Barre in einem Interview zum Buch mit dem „Spiegel“. „Frauen aus dem Springer-Verlag begannen mich anzurufen – und machen es bis zum heutigen Tag. Frauen, die mir ihre Geschichte erzählen.“
Er selbst bezeichnet den Roman im Vorwort trotzdem als von realen Ereignissen losgelöste „und unabhängige fiktionale Geschichte“. Der Autor habe „ein völlig eigenständiges neues Werk geschaffen“. Das gibt dem Schriftsteller die Freiheit, eine Geschichte zu erzählen, die eindeutige Parallelen zur Realität hat, und den Leser doch immer fragend zurücklässt: Ist das wirklich so geschehen? Oder nur die Dichtung des Urhebers? Lesen wir von Erlebnissen mit Reichelt und Döpfner – oder sind die Protagonisten kunstvoll auf dem Papier zusammengesetzte Personen, die nur noch einen Kern haben, der von der Realität inspiriert ist? Ob das reicht, um Klagen gegen das Buch abzuwenden, ist allerdings fraglich.
Welche Verbindung hat Stuckrad-Barre zu Springer?
Der Autor zählte lange zu den engsten Freunden von Verlagschef Döpfner. Der Springer-Boss habe einst einen Text von ihm gelesen, erzählt Stuckrad-Barre im Interview mit dem „Spiegel“. Danach habe er ihn gefragt, ob er bei seinem Verlag anheuern wolle. 2007 verkündete Springer die exklusive Verpflichtung des damals 32-jährigen Schriftstellers stolz in einer Pressemitteilung.
Der Autor soll ein immens hohes monatliches Honorar erhalten haben, so zumindest die Gerüchte in der Branche. Zum 100. Geburtstag von Axel Springer war Stuckrad-Barre Co-Autor einer Revue, die das Leben des Springer-Gründers nachzeichnete. 2018 beendete der Schriftsteller sein Engagement, in dieser Zeit muss es auch zum Bruch der Duz-Freunde Döpfner und Stuckrad-Barre gekommen sein. Heute habe er Döpfners Nummer blockiert, sagt der Autor im „Spiegel“-Interview. „Da gibt es nichts mehr zu duzen.“
Was ist nach der Veröffentlichung zu erwarten?
Bis zum Erscheinungstag war der Inhalt von „Noch wach?“ vor allem eines: ein großes Geheimnis. Lange waren nicht einmal Titel und Cover bekannt, Anfang März verschickte der Verlag Kiepenheuer & Witsch dann eine dürre Ankündigung. Vorab-Exemplare, die normalerweise an die Redaktionen gesendet werden, gab es nicht – zu groß offenbar die Gefahr, dass schon Details an die Öffentlichkeit gelangen und eine Klage nach sich ziehen könnten.
Dass es jetzt, nach der Veröffentlichung, Klagen gegen das Buch geben wird, ist allerdings zu erwarten. Zu nah an der Wirklichkeit scheinen die Beschreibungen eines Chefredakteurs, der junge Kolleginnen verführt, und eines Verlagschefs, der zu seinem engsten Mitarbeiter hält. Zu groß wirkt die Parallele zwischen dem Romantitel – „Noch wach?“ – und dem Inhalt einer SMS, die Julian Reichelt an eine Kollegin geschrieben haben soll. Auch, wenn Benjamin von Stuckrad-Barre im Interview mit dem „Spiegel“ abwinkend sagt: „Noch wach? ist doch ein Klassiker der SMS-Kommunikation. Fast jeder, der mal eine Weile im Nachtleben unterwegs war, hat das selbst schon geschrieben oder eine so lautende Nachricht bekommen.“
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