Hochstaplerin: Anna Sorokin: Wie sich eine mittellose junge Frau als Millionenerbin inszenierte

Es war der Gerichtsprozess, der Anna Sorokin im März dieses Jahres endgültig zur Heldin eines modernen Märchens machte: eine junge Frau aus einfachen Verhältnissen, die sich unter dem Namen Anna Delvey als vermeintliche Millionenerbin durch die New Yorker High Society geschwindelt hatte – und am Ende wegen Diebstahls verhaftet wurde. Die Angeklagte mit dem rätselhaften Kindergesicht trug eine große Brille und blieb stumm. Ihr Anwalt zitierte Frank Sinatras „New York, New York“: If I can make it there, I’ll make it anywhere. Dann paraphrasierte er den amerikanischen Traum, um das Treiben seiner Mandantin zu erklären. In der Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten habe sie es zu etwas bringen wollen, so fasste er ihre Motivation zusammen.

Anna Sorokin, geboren 1991 in Domodedowo bei Moskau, zuletzt wohnhaft in Eschweiler, Nordrhein-Westfalen, wurde im Mai zu vier bis zwölf Jahren Haft verurteilt. Im Gefängnis sei es besser als erwartet, ließ sie kürzlich verlauten. Wie ein „soziologisches Experiment“. Damit kennt sie sich aus.

Anna Sorokins Erfolgsgeheimnis

Als Sorokin 2016 in der New Yorker Szene auftauchte, war sie 25 und nannte sich bereits Anna Delvey. Ihr Vater, so erzählte man sich, sei ein russischer Multimillionär; den meisten reichte das an Information. Wenn jemand mehr wissen wollte, legte sie gefälschte Schriftstücke von Bankhäusern oder privaten Finanzverwaltern mit komplizierten europäischen Namen vor, die sie als vermögende Erbin auswiesen. Ihr größtes Erfolgsgeheimnis war jedoch, dass sie sich einfach so benahm, als wäre sie reich: Wer mit einer Taxiladung voller Designer-Boutique-Tüten für mehrere Wochen im Luxushotel „11 Howard“ eincheckt und Hundert-Dollar-Scheine als Trinkgeld verteilt, wird nicht sofort mit der Rechnung behelligt. Und der Champagner aus dem Restaurant? Bitte einfach auf die Zimmernummer schreiben, danke schön.

In einer anderen Stadt wäre sie vermutlich schneller aufgeflogen. Aber New York war genau das richtige Umfeld für ein Geschöpf wie Anna Delvey. Das leicht arrogante Mädchen mit dem undefinierbaren Akzent und dem beachtlichen Fachwissen über Finanzmärkte wurde einfach als ein weiteres „Trust fund baby“ wahrgenommen. Ein Kind, das so wohlhabend ist, dass es nie über das Geldverdienen nachdenken muss. Nur über das Investieren. Das man hofiert, solange es seine Planungen zur Kapitalanlage noch nicht abgeschlossen hat.Anna Sorokin Hochstaplerin Anna Delvey 20190511

Bei Anna Sorokin ging es um Betrug und um eine Schadenssumme von rund 275000 Dollar.

Bei Anna Delvey, der Kunstfigur, die sie erschaffen hat, geht es um eine millionenschwere Story. Immer noch.

Moderne Märchen werden heute in Fernsehserien erzählt. Weil sich Stoffe mit dem Zusatz „wahre Begebenheit“ besonders gut verkaufen, ist die mittellose Fake-Erbin nun tatsächlich ziemlich wertvoll. Bereits 2018 sicherte sich Netflix die Rechte an der Geschichte. Die Hochstapelei wird nach einem Drehbuch von Shonda Rhimes verfilmt, der Erfinderin von „Grey’s Anatomy“. Mit Anna Sorokins Anwalt soll eine Summe von 100000 Dollar ausgehandelt worden sein, zuzüglich der Tantiemen und Honorare – ob Sorokin auf das Geld zugreifen kann, ist noch strittig.

„Anna Delvey Foundation“

Für den Konkurrenten HBO arbeitet Lena Dunham an einer ­Serie. Ihre Version basiert auf dem Buch „My Friend Anna“ von Rachel DeLoache Williams, das dieser Tage auf Deutsch erscheint und ein anderes Licht auf die Schwindlerin wirft: Anna Delvey hat nicht nur Banken und Hotels betrogen, sondern auch ihr privates Umfeld. Am Ende ihrer gemeinsamen Zeit hatte Rachel Williams sich für ihre Freundin mit über 60000 Dollar verschuldet – das war mehr als ihr damaliges Jahresgehalt. Wie es dazu gekommen ist, schildert sie in ihrem Buch, das zugleich wortreich die Psychologie ihrer Freundschaft zu Delvey beschreibt. Doch zwischen ihren Sätzen schimmert noch eine andere Geschichte: die von einer Welt, in der jeder das sein kann, was er behauptet – weil es kaum jemanden interessiert, wer man tatsächlich ist.

Als Rachel Williams, heute 32, sie im Februar 2016 das erste Mal traf, war Delvey bereits eine New Yorker Berühmtheit. Einfach nur, weil sie überall erschien, wo New Yorker Berühmtheiten sich treffen: in angesagten Restaurants, auf Partys und Vernissagen. Sie trug die richtigen Schuhe, flache Gucci-Sandalen, und sie sagte die richtigen Sachen, nämlich fast gar nichts. Nie musste sie etwas erklären, nie wurde sie gefragt, woher sie jemanden kannte: In diesem Teil der Welt wird der soziale Status auf Instagram gecheckt. Delvey hatte 40000 Follower, ein Praktikum bei einem Pariser Fashion-Magazin und Selfies mit Szene-Leuten vorzuweisen. Das reichte.Anna Sorokin Netflix 10.28

„Anna hat sich genauso verhalten, wie sich eine millionenschwere Erbin mit Mitte 20 in New York verhalten würde“, sagt Rachel Williams. Außerdem inszenierte Delvey sich als kulturbeflissenes ­It-Girl. „Sie war ernsthaft an Kunst interessiert. Und sie sprach voller Begeisterung von ihrem Projekt.“ Das Projekt war die „Anna Delvey Foundation“: Sie sei nach New York gekommen, um in einer repräsentativen Immobilie ein exklusives Kunstzentrum zu errichten, erzählte sie. Das Gebäude gab es und die Designer und Architekten, deren illustre Namen sie in ihre Geschichten streute wie bunte Bonbons, ebenfalls. Weil das alles so gut und vor allem nach viel Geld klang, fragte niemand genauer nach. Nicht die Geschäftsleute, mit denen sie sich auf Empfängen zu Projektbesprechungen verabredete. Nicht die Freunde, die ihr bei diesen Gesprächen ehrfürchtig zusahen. Ihre Geburtstagsfeier ließ sie von einer PR-Agentur ausrichten. Auch die fragte erst mal nicht nach Geld.

„Vanity Fair“

Rachel Williams kommt aus Knoxville, Tennessee, und den Zugang zu der Welt, in die ihre neue Freundin vermeintlich hineingeboren worden war, musste sie sich erst erarbeiten: Nach einem Praktikum wurde sie Fotoredakteurin bei „Vanity Fair“ und fasste langsam Fuß in den Netzwerken der New Yorker Szene. Anna Sorokin, Tochter eines russischen Lkw-Fahrers, der sich in Deutschland inzwischen mit einer Firma selbstständig gemacht hat, scheint die Mechanismen dieser Szene gründlich studiert zu haben: Großzügig spendierte sie Tischrunden, bestellte teuersten Wein, buchte am Handy einen Privatjet und beauftragte für sich und Rachel eine Fitnesstrainerin mit einem Stundenlohn von 300 Dollar. Es war so einfach: Mit dem Kredit, den sie bei einer Bank aufnahm, bezahlte sie die Schulden eines anderen. Sie erfand ein Büro, das sich angeblich um die Finanzen ihrer Familie kümmerte, und schrieb im Namen ebenfalls erfundener Mitarbeiter Mails und Briefe.

Zwischendurch konnte sie zwar mal eine Rechnung nicht bezahlen, weil etwas mit ihrer Kreditkarte nicht stimmte oder weil sie die Bezahl-App eines befreundeten Tech-Entwicklers testete, die so neu war, dass sie noch nicht überall funktionierte – aber all das nahm ihr niemand übel. Gut, mitunter war es teuer, mit ihr unterwegs zu sein. Aber sie zu kennen bedeutete auch ein Investment in den eigenen sozialen Marktwert. Sie war hip, reich und exotisch. Oft aufbrausend, schnell gelangweilt. Dass sie nur wenig über ihre Familie sprach, machte sie noch interessanter.

 "My Friend Anna": Rachel DeLoache Williams' Buch über Anna Sorokin, Goldmann, 10 Euro
„My Friend Anna“: Rachel DeLoache Williams‘ Buch über Anna Sorokin, Goldmann, 10 Euro
© hfr

„Ihre Unnahbarkeit hat meine Fantasie beflügelt“, sagt Rachel Williams rückblickend. „Ständig habe ich nach Erklärungen für ihr Verhalten gesucht – und mir dabei in Wahrheit Entschuldigungen für sie ausgedacht.“ Der Traum von der schönen bunten Welt aus Wellness-Wochenenden und Instagram-tauglichen Einkaufstouren endete für Williams in einem Bungalow im Hotel „La Mamounia“ in Marrakesch, der 7000 Dollar die Nacht kostete. Delvey hatte sie gemeinsam mit der Fitnesstrainerin zu dem Kurzurlaub eingeladen und außerdem noch einen Fotografen engagiert, der einen Film über sie drehen sollte. Die Rechnungen von über 62000 Dollar musste am Ende Rachel Williams bezahlen, zum Teil mit ihrer Firmenkreditkarte. Das Geld werde sie zurückbekommen, versicherte ihr Delvey.

Vertrauensverlust

Weil das Leben oft die besten Pointen bereithält, hatte sie recht.

Als mehrere Betrugsvorwürfe vorlagen, half Williams der Polizei bei der Fahndung nach Delvey, die schließlich im Oktober 2017 verhaftet wurde. Einige Monate später veröffentlichte Williams ihre Erlebnisse in „Vanity Fair“. Für den daraus folgenden Buchvertrag soll sie, so der britische „Telegraph“, 300.000 Dollar bekommen haben. Das Geld, das sie für Delvey gezahlt hatte, wurden von ihrer Kreditkarten­firma erstattet. Trotzdem hätte sie auf all das lieber verzichtet, sagt sie. „Der Vertrauensverlust und der Schuldenberg waren die Hölle.“

Rachel Williams drängt in ihrem Buch darauf, Anna Sorokin als Verbrecherin zu sehen. Nicht als smarte Lügnerin, die eine geldverliebte Scheinwelt vorgeführt hat. Doch im Vergleich zu anderen Finanzbetrügern ist die Summe gering, um die es bei ihr ging. Wäre sie tatsächlich eine Millionärstochter, hätte sie sich vermutlich mit einer Armee von Anwälten leichter vor Gericht aus der Affäre ziehen können – auch das gehört zu der Geschichte von Anna Sorokin, dem diebischen Mädchen aus einfachen Verhältnissen.

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