Unternehmen entdecken das Potenzial ihrer schwulen, lesbischen oder Transgender-Beschäftigten. Eine exklusive Studie nennt die besten Arbeitgeber im Hinblick auf Diversität.
Nee! Ihren früheren männlichen Vornamen verrät Nora Angerstein nicht mehr. Die 39-Jährige schüttelt den Kopf. Die Haare rostbraun, die Fingernägel signalrot, der Blick offen. Vor fünf Jahren hat sie sich ihrer Transgeschlechtlichkeit gestellt und sich auf den Weg gemacht. Stück für Stück. Heute wirkt sie ganz bei sich. Geduldig und selbstbewusst beantwortet sie Fragen. „Ich definiere mich nicht über mein Trans-Sein“, sagt sie, „aber es ist Teil meiner Person und meiner Lebenserfahrung.“ Klare, offene Kommunikation sei ihr wichtig, gerade am Arbeitsplatz.Woche der Vielfalt Kasten und Logo
In ihrer früheren Firma, einem Industriekonzern, war sie Produktionsplanerin. Auf einer Betriebsversammlung, erzählt sie, habe sie sich geoutet, vor 120 Mitarbeitenden: „Die Reaktionen waren sehr positiv.“ Sie habe damals gesagt: „Wenn ihr Unsicherheiten habt, sprecht mich drauf an.“ Das habe gut funktioniert, so wie heute bei der Bahn.
Seit zwei Jahren arbeitet Angerstein im Bahnhofsmanagement in Potsdam. Als sie sich beworben hatte, waren ihre Transition sowie die Änderung des Vornamens und des Personenstands weitgehend abgeschlossen. Als Teamleiterin begleitet sie heute Bauprojekte, kontrolliert Budgets und steuert die Instandhaltungskosten. Ihrer neuen Chefin gegenüber hat sie sich an einem der ersten Tage im neuen Job geoutet. „Es ist immer möglich, dass man mit Vorurteilen und Ausgrenzung konfrontiert ist“, sagt Angerstein. „Dann ist es wichtig, dass der Arbeitgeber klarmacht, dass dafür kein Platz ist.“
Mit den Worten von Bahn-Personalvorstand Martin Seiler klingt das so: „Wir wollen ein Arbeitsumfeld schaffen, in dem sich jede und jeder wertgeschätzt fühlt und so seine oder ihre Stärken gezielt einbringen kann.“ Besonderes Augenmerk gilt dabei seit einigen Jahren dem Thema Transition. Zusammen mit Nora Angerstein und anderen wurde ein Leitfaden entwickelt. „Das ist eine Handreichung für trans Personen, Vorgesetzte sowie Kolleginnen und Kollegen“, sagt sie etwas stolz.
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„Im Arbeitsalltag fragt man sich schon, wann öffne ich mich wem und wie?“
Verspätungen, Streiks und falsche Wagenreihung – das Image der Bahn mag bei den Kunden nicht das beste sein. Aber bei den Beschäftigten gilt der Staatskonzern als tolerantes, vielfältiges Unternehmen. Die Deutsche Bahn zählt zu den 50 besten Arbeitgebern unter dem Aspekt der Diversität. Das zeigt das Ranking, das der stern zusammen mit den Marktforschungsexperten von Statista ermittelt hat. Mehr als 45.000 Beschäftigte haben sich an der Studie beteiligt.
Befragt wurden sie zu mehreren Dimensionen. Neben dem Geschlecht und der Ethnizität ging es auch um den Umgang mit Alter, körperlichen Beeinträchtigungen und sexueller Orientierung. Zusätzlich wurden weitere Kriterien wie der Anteil von Frauen in der Geschäftsleitung herangezogen. Ergebnis ist eine Liste von 250 ausgezeichneten Unternehmen. Besonders stark vertreten sind Krankenhäuser und Wohlfahrtsverbände, aber auch die IT- und Telekommunikationsbranche. An der Spitze steht der Versicherungskonzern Allianz.
Lange galt der Finanzriese als eher konservatives Unternehmen. Als Sebastian Pawels vor neun Jahren nach dem BWL-Studium seine erste Stelle in München antrat, hat er erst mal die Lage sondiert. „Im Arbeitsalltag fragt man sich schon, wann öffne ich mich wem und wie?“, erzählt er. Pawels hat einen männlichen Partner. „Die Frage des Outings kommt nicht nur einmal im Leben, sondern immer wieder“, sagt er. „Ich habe hier schnell gemerkt, dass ich damit offen umgehen kann.“
Mit Bart und Brille sieht der 34-Jährige ein wenig wie ein Nerd aus. In einem agilen Team hat er die fachliche Führung inne. Bei dieser Arbeitsweise spielt gegenseitiges Vertrauen eine große Rolle. „Damit Mitarbeitende ihr ganzes Potenzial ausschöpfen können, ist es notwendig, dass sie ihr volles Selbst zur Arbeit bringen können“, sagt er. Das Verbergen eines Teils seiner Persönlichkeit könnte schnell zum Problem werden.
Vielfalt gewinnt
Es ist nicht ganz uneigennützig, wenn sich Unternehmen in Zeiten des Fachkräftemangels für die LGBT-Community engagieren. Die Abkürzung steht für Lesben, Gays, Bisexuelle und Transgender. Oft werden noch das Q für queere Menschen und ein Plus für weitere Geschlechter-Identitäten hinzugefügt. Auch bei der Allianz gibt es ein LGBTQ+-Netzwerk; Sebastian Pawels ist der deutsche Vorsitzende von Allianz Pride. Ein offen formuliertes Ziel ist, das Unternehmen als „Arbeitgeber erster Wahl auch für LGBTQ+ Bewerber:innen zu positionieren“. Pawels ist überzeugt: „Je diverser die Mitarbeitendenschaft, desto besser die Ergebnisse.“
Die Hauptaufgabe der Pride-Gruppe sieht er auch darin, die Sichtbarkeit der Community zu erhöhen, durch interne Veranstaltungen und etwa durch die gemeinsame Teilnahme an der Parade zum Christopher-Street-Day, dem traditionellen Protest- und Partytag von Schwulen und Lesben. „Ich freue mich darauf, nach Corona wieder mit einem Allianz-Truck Flagge zu zeigen“, sagt er.
Während die Frauen im Kampf um mehr Diversität durchaus Erfolge vermelden können – nach Merck wird nun mit Fresenius Medical Care der zweite Dax-Konzern von einer Frau geführt –, sind LGBTQ+-Vorbilder an Unternehmensspitzen hierzulande weiter Mangelware. In den USA dagegen gibt es offen schwule Topmanager wie Apple-Chef Tim Cook.
Das Fehlen von Vorbildern treibt auch Yvonne Engelbrecht ihr ganzes Berufsleben um. „Seit ich denken kann, fühle ich mich zu Frauen hingezogen“, erzählt die 40-Jährige. „Ich war schon in meine Kindergärtnerin verliebt.“ Als sie eine junge Frau war, gab es die TV-Stars Hella von Sinnen, Bettina Böttinger oder Ulrike Folkerts. Aber bei ihren ersten Stellen nach der Ausbildung zur Bürokauffrau hatte sie bei den Arbeitgebern immer das Gefühl, die Einzige zu sein: „Ich hatte niemanden, an dem ich mich orientieren konnte.“
Ein Coming-out im Job kam für Engelbrecht lange Zeit nicht infrage. „Ich hatte das Gefühl: Ich kann das jetzt nicht sagen, weil ich so hervorstechen würde.“ Sie habe ihre sexuelle Orientierung deswegen für sich behalten, regelrecht verheimlicht: „Es wurde zur zweiten Haut, Notlügen zu erfinden.“
Arbeits- und Privatleben trennte sie streng. „Ein Gefühl von Zugehörigkeit stellte sich nicht ein, der Job bleibt so weitgehend austauschbar.“ Erst als sie vor vier Jahren zum Kosmetikkonzern Beiersdorf wechselte, änderte sich das. Als sie nach ihrem ersten Arbeitstag nach Hause gekommen sei, habe sie ihrer Frau erzählt: „Krass, das ist eine ganz andere Welt, ein anderer Planet.“ Die Belegschaft war weiblicher, bunter, internationaler, zu ihrem ersten Team zählten gleich fünf schwule Männer. „Das war für mich eine Offenbarung“, sagt sie.
Diversität in der Werbung
Das Gespräch findet in einem Präsentationsraum in der Zentrale in Hamburg statt. Im Hintergrund steht eine Regenbogenfahne mit dem Aufdruck: „Nivea ist für alle da.“ Zur Pride-Saison mit den CSD-Paraden ist eine limitierte Edition in Regenbogendosen erschienen, die 75-Milliliter-Dose für einen empfohlenen Verkaufspreis von 1,69 Euro. Kein großes Geschäft, aber ein wichtiges Symbol.
Mehr als bei der Bahn und der Allianz geht es nicht nur um die Attraktivität für Jobsuchende, sondern für Kundinnen und Kunden. In der Werbung für den Lippenpflegestift „Labello“ ist neuerdings ein Mann mit rot angemaltem Mund zu sehen. Yvonne Engelbrecht sieht es als Verpflichtung für das Unternehmen: „Was wir nach außen zeigen, müssen wir auch nach innen mit Maßnahmen unterstützen.“
Sie engagiert sich im firmeneigenen LGBTQ+-Netzwerk BeYou. Gerade hat sie eine internationale Talkrunde zur „lesbian visibility“ organisiert, mit Unterstützung von ganz oben: Auch Vorstandschef Vincent Warnery schaltete sich zu. „Man sieht bei Beiersdorf unheimlich viele schwule Männer, aber so gut wie keine lesbische Frau“, sagt Engelbrecht. Sichtbarkeit meint nicht die Äußerlichkeiten. Engelbrecht selbst entspricht im eleganten roten Business-Kostüm überhaupt nicht irgendwelchen Klischees. Viele würden sich immer noch bedeckt halten aus Angst vor einer doppelten Diskriminierung – als Frau und als Lesbe.
„Wir sind noch nicht am Ziel, ehe nicht eine Managerin ganz selbstverständlich sagt: Übrigens, das ist meine Frau.“
Die Methode
Das sind die besten Arbeitgeber nach Branchen
Die Top 25 in der Übersicht:
1. Allianz
2. Merck
3. Google Germany
4. Microsoft Deutschland
5. Marriott Deutschland
6. KPMG
7. Beiersdorf
8. ING Deutschland
9. Deutsche Telekom
10. DLR Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt
11. Agilent Technologies
12. RWE
13. Pfizer
14. Johnson & Johnson
15. HPE Hewlett Packard Enterprise
16. Infineon
17. Adidas
18. TK Maxx
19. ABB
20. Capgemini
21. Coca-Cola
22. Zurich Gruppe Deutschland
23. Datev
24. BWB – Berliner Werkstätten f. Menschen mit Behinderung
25. Hugo Boss
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