Horst von Buttlar: Der Capitalist: Das schizophrene Jahrzehnt – die große Bilanz der letzten zehn Jahre

Das Jahrzehnt, das nun zu Ende geht, hält für uns Deutsche zwei Geschichten parat: Es war ein langes Jahrzehnt der Krisen und gleichzeitig eine „Goldene Dekade“.

An deren Anfang stand ein „V“, eine Kurve nach oben, nach dem historischen Einbruch 2009. Deutschland erholte sich, erlebte ein fulminantes Comeback, in dem die Volkswirtschaft um knapp eine Billion Euro auf rund 3,4 Billionen anschwoll. Das BIP pro Kopf wuchs von gut 30.000 Euro auf über 40.000 Euro, die Zahl der Erwerbstätigen von 41 auf 45 Millionen, die Löhne stiegen im Schnitt um ein Viertel. Deutschland erntete, wuchs, lebte, es waren Zeiten des Überflusses und Überschusses.

Das Jahrzehnt war auch eines der großen Krisen: Die Finanzkrise glomm noch, es folgte die Eurokrise, 2015 die Flüchtlingskrise, und dieses Jahr wurde eine alte Krise neu entdeckt und zu einem „Notstand“ erklärt: die Klimakrise. Und so war es auch ein Jahrzehnt der Rettungen, erst für Banken, dann für Staaten, dann für eine ganze Währung. Hunderttausende Menschen wurden vor einem Krieg gerettet, schließlich, unter den Protesten der Jugend, das Weltklima, die ganze Erde.

kurzbio horst von buttlarDie Formeln dieser Rettungsaktionen wirken bis heute nach, haben uns aufgewühlt und gespalten:

„Whatever it takes.“

„Wir schaffen das.“

„Ich will, dass ihr in Panik geratet.“

Politik hieß in diesem Jahrzehnt oft nicht gestalten, sondern reagieren und getrieben sein. Wenn wir zurückschauen und Bilanz ziehen, werden wir merken, welche Lehren und Lektionen diese Jahre für die Zukunft bereithalten. Denn natürlich sind Jahrzehnte und andere Zeiträume auch immer willkürlich gewählt. Aber so ticken wir Menschen, wir leben in Perioden, Phasen, Zeitaltern.  

Was also liegt hinter uns?

Zerstörung, Disruption, Eroberung

Es war ein Jahrzehnt, in dem der Zins verschwand und die Häuser in Städten unerschwinglich wurden, in dem Sparen und Wohnen anstrengend und emotional wurden, in dem wir immer mehr Geld verteilten und rätselten, warum wir nicht zufrieden wurden. Was natürlich ein falscher Eindruck ist: Denn die Deutschen insgesamt sind so zufrieden wie seit 30 Jahren nicht mehr, zumindest vier von fünf sagen das, in ganz unterschiedlichen Umfragen.

Es war das Jahrzehnt der Zerstörung, der Disruption und Eroberung, in dem die großen Technologiekonzerne ihre Plattformen und Ökosysteme endgültig über den Globus ausbreiteten: Facebook, Apple, Amazon, Google, Spotify und Netflix gibt es schon länger, ihre Wucht und Größe erlangten sie erst in diesem Jahrzehnt, in dem zudem viele neue Dienste entstanden, die heute zu unserem Alltag gehören: Whatsapp (2009), Instagram (2010), Snapchat (2011), Airbnb (2008), Uber (2009). 

Es war auch ein Jahrzehnt ­eines Upgrades und Updates, in dem die deutsche Wirtschaft ihre Fabriken und Maschinen vernetzte, Zeiten, in denen ständig eine neue industrielle Revolution ausgerufen wurde.

Es war ein Jahrzehnt, in dem alles mobil wurde, Nachrichten, Spiele, Kommunikation, in dem wir Schuhe, Kleidung und Essen nach Hause bestellten und sich in unseren Wohnungen Pakete stapelten. Ein Jahrzehnt, in dem wir aufhörten, linear Musik zu hören und Filme zu schauen, in dem wir in Serien lebten und den Tag mit Twitter, Apps, Newslettern und Podcasts begannen.

Zwei Finger steuern alles

Unser Tag wurde gefüllt mit Posts, Fotos, Clips, Likes und Chats und wurde gleichzeitig leer. Wir waren überall präsent, auf allen Kanälen, waren immer erreichbar, und doch verschwanden wir in der Flut dieser Informationen. Zwei Finger steuerten dieses Jahrzehnt, der Daumen, der etwas likte, und der Zeigefinger, der über Bildschirme wischte.

Es war ein Jahrzehnt der Megatrends, die uns in immer neue Transformationsabenteuer stürzten: Digitalisierung, Cloud-Computing, Industrie 4.0, Robotik, künstliche Intelligenz, 3D-Druck, Shared Economy, E-Mobilität.

Wir lernten zu teilen in diesem Jahrzehnt, unsere Wohnungen, Kleider und Autos, bis wir merkten, dass es nicht ums Teilen, sondern um Daten und Geld ging. Wir wollten uns neu bewegen, vernetzt, autonom, und müssen doch heute feststellen, dass wir immer noch so Auto fahren wie vor zehn Jahren. Erst langsam steigen wir um, schleichen um die neuen E-Auto-Modelle, wir zögern, rechnen und hadern, während Tesla, der große Pionier dieses Jahrzehnts, eine Fabrik vor den Toren Berlins ­errichten will.

Die Blase platzt nicht – und bleibt

Das Geld wurde mehr und mehr in dieser Dekade, in der wir immer öfter in Billionen zählten. Es wuchs in den Bilanzen der Notenbanken und in den Kreditbüchern, während die Banken darbten und starben. Wir erlebten Deals in neuen Rekorden und immer größeren Finanzierungsrunden, und plötzlich dann: Implosionen, Betrug, Gier. Viele Einhörner, allen voran Wework, sind entzaubert – und die Blase hinter all diesen Ideen, die Schulden, die sich zu neuen Rekorden auftürmten, nun, die tragen wir mit ins nächste Jahrzehnt. Die Blase ist nicht geplatzt, auch wenn manche es prophezeit haben und kleinlaut den Crash in die 2020er-Jahre verschieben mussten.

Es war ein Jahrzehnt, in dem die „Welt in Unordnung“ und Chaos geriet und uns die Kontrolle entglitt, über Grenzen, Europa und in den Tiefen des Internets, in denen Hass sich endlos ausbreiten konnte. Die Lüge erlebte ihren Aufstieg in dieser Zeit, weil sie in manchen Ländern zur beliebtesten Waffe der Mächtigen, ja Staatsräson wurde. Gelogen wurde schon immer, aber in diesem Jahrzehnt wurde sie ein Produkt, der Bestseller der Plattformökonomie.

Wir sind uns dessen bewusst, reden und streiten darüber, haben Gesetze verabschiedet. Die Techkonzerne haben sogar Menschen angestellt, deren Beruf es ist, Hass und Lügen zu kontrollieren. Aber wir sind weit davon entfernt, Lösungen zu haben, und wir treten wie Zauberlehrlinge ins neue Jahrzehnt, die auf viele mächtige Besen schauen.

Spaltung, Zerfall, Auflösung prägten die Zeit, Volksparteien wurden klein, und Ränder wurden groß, und an der Schwelle zum nächsten Jahrzehnt denken wir darüber nach, wie gespalten die Gesellschaft, wie gereizt die Gegenwart, wie kaputt der Kapitalismus ist, wie kaputt Europa, wie entfremdet Stadt und Land, Reich und Arm, wie „Wohlstand für alle“ noch möglich ist. Wir haben Europa verteidigt in diesem Jahrzehnt, aber noch nicht wiedergewonnen und neu gedacht. Das wird die große Aufgabe der 2020er-Jahre sein.

Das erloschene Lagerfeuer

Wir beenden das Jahrzehnt mit ­einem großen Widerspruch, mit ­einem zwiespältigen Gefühl und ­inneren Schisma, weil es trotz dieser Krisen den allermeisten Menschen, zumindest in Deutschland, besser geht als vor zehn Jahren.

Aber nicht überall fühlt es sich so an, und so reden wir mehr über Abgehängte als über Zufriedene. Vermutlich, weil all diese Trends, von denen hier die Rede war, die Menschen nicht zusammengeführt haben, sondern entfremdet, geteilt und versprengt. Die großen Lagerfeuer, um die sich ein Land scharen konnte, sind erloschen in diesem Jahrzehnt, selbst wenn es nur Shows wie „Wetten, dass ..?“ (bis 2014) oder Komiker wie Loriot waren (gestorben 2011). Allein den „Tatort“ haben wir noch.

Dieser Zwiespalt existiert auch anderswo: Millionen Menschen haben, allen voran in China, den Aufstieg geschafft, der Staatskapitalismus ist einer der größten Erfolge im Kampf gegen Armut. Aber die Menschen in China zahlen einen Preis dafür, der uns erst langsam bewusst und sichtbar wird: den Preis der Unfreiheit und Überwachung in einer neuen technologischen Dimension.

All diese Trends und Entwicklungen werden 2020 nicht aufhören und uns weiter beschäftigen, und so wundert es nicht, dass am Ausgang dieses Jahrzehnts große und großspurige Pläne angekündigt wurden, gigantische Investitionspläne und „Green New Deals“. Was hinter dem „Green Deal“ steckt (KORR) 11.40

Was tun? Kitten, reparieren!

Doch sie führen derzeit zu wenig Zuversicht, im Gegenteil, sie wecken Ängste: Es ist die Furcht, ob gerade Deutschland seinen Wohlstand wird verteidigen und weiter steigern können. Weil die Herzkammer der deutschen Wirtschaft unter Druck ist: Die E-Auto-Modelle sind auf dem Markt und sehen schick aus, aber wir sind unsicher, ob wir das kommende Jahrzehnt davon leben können.

Wenn wir die Kernaufgabe der kommenden Jahre auf einen Nenner bringen müssten, so kann man sagen, dass es darum gehen wird, all das Zerstörte und Gespaltene zu heilen, zu kitten, zu reparieren.

All die Wunden, Brüche und Risse, seien sie in uns, unserer Gesellschaft oder auf dem Planeten, zumal die Wucht mancher Veränderungen sich erst im kommenden Jahrzehnt voll entfalten wird.

2019 und die Jahre davor waren ein Vorbeben, so wie der Lehman-Kollaps 2008 das lange Jahrzehnt der Krisen einläutete: Wir sehen das im Osten des Landes, in der Autoindustrie, im Handelsstreit, im Aufstieg Chinas, im Brexit, im Streit um Daten und Privatsphäre, im Populismus und im täglichen Ringen der Demokratie.

Wenn wir in die sozialen Netzwerke und auf die Schlagzeilen schauen, müsste man pessimistisch sein, dass wir es schaffen. Wenn wir darauf schauen, was wir seit 2010 erreicht haben, was erfunden wurde und sich verbessert hat, welche Kräfte dieses Land entfalten kann, wenn es sich um runde Tische setzt, einig wird und tüfteln darf, dann dürfen wir hoffen.

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