Flüchtlingspolitik: Horst Seehofer war der Obergrenzen-Polterer, jetzt fürchtet er die Grünen mehr als die AfD

Innenminister Horst Seehofer (CSU) ist im Ringen um eine Lösung für Migranten-Rettungsschiffe auf dem Mittelmeer vorgeprescht. Er bietet an, dass Deutschland künftig jeden vierten Geretteten aus Italien übernehmen könne. Seehofer bezog sich auf Verhandlungen über einen Mechanismus zur Verteilung von aus Seenot geretteten Bootsflüchtlingen in Europa. Die allerdings sind längst nicht abgeschlossen. Derzeit scheinen 25 Prozent für Deutschland ohne weiteres verkraftbar. Doch was, wenn die Flüchtlingszahlen wieder deutlich anziehen, fragen die Kommentatoren der Tagespresse.

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„Frankfurter Allgemeine Zeitung“

Bundesinnenminister Seehofer sagt, dass Deutschland nicht überfordert wäre, wenn es ein Viertel der Migranten aufnehmen würde, die aus Seenot gerettet und nach Italien gebracht werden. So pauschal ist das nicht richtig. (…) Die EU-Marinemission Sophia hat in den Jahren nach 2015 knapp 730.000 Migranten im Mittelmeer gerettet, das ist schon eine beachtliche Größenordnung. Sollte es noch einmal zu einem großen Ansturm kommen, dann wäre ein deutscher Anteil von 25 Prozent keine Kleinigkeit, vor allem nicht politisch. Dass die Ankunftszahlen in jüngster Zeit stark zurückgegangen sind, heißt noch lange nicht, dass das Gefühl von gesellschaftlicher Überforderung verflogen wäre, das so viele Wähler umtreibt. Dieses wird immer noch vom Eindruck genährt, dass bürgerliche Politiker die Migration nur verwalten, nicht aber steuern. Seehofer wusste das einmal. Heute hat seine CSU aber mehr Angst vor den Grünen als vor der AfD.“

„Südkurier“ (Konstanz)

Was ist nur mit Horst Seehofer los? Wird der CSU-Mann altersmilde? Ausgerechnet der Polterer, der in den letzten Jahren nicht davor zurückschreckte, die Koalition zu riskieren, nur um seine Obergrenze durchzudrücken – ausgerechnet Seehofer bietet nun also Italien an, künftig prinzipiell ein Viertel der geretteten Flüchtlinge abzunehmen. Bei Pro Asyl werden sie sich verwundert die Augen gerieben haben. Auch wenn aufgrund der stark gesunkenen Zahlen dadurch die Obergrenze auch in Zukunft nicht in Gefahr ist, ist das schon ein bemerkenswerter Schwenk. Offenbar hat Seehofer erkannt, dass man mit rechter Stimmungsmache keine Wähler zur CSU lockt, sondern diese der AfD in die Arme treibt. Ein ähnlicher Wandel ist dieser Tage übrigens auch bei Seehofers Parteikollege Markus Söder zu beobachten, der seit der für die CSU unbefriedigenden Bayern-Wahl mehr und mehr zum Umwelt- und Klimaschützer mutiert. Die CSU hat ihren wahren Konkurrenten identifiziert: die Grünen.

„Badische Zeitung“ (Freiburg)

„Überfordert wäre Deutschland mit der Hilfe jedenfalls nicht – das sagt sogar Seehofer, der vor gar nicht langer Zeit die Koalition über die Zuwanderung hätte ohne zu zögern platzen lassen. Der Mann bleibt wendig. Und stets ein Wahlkämpfer: Die CSU hat für kommende Wahlen vor allem die Grünen als Konkurrenz ausgemacht – da steht ihr ein wenig Menschlichkeit gut.“14: Deutschland will Italien jeden vierten Flüchtling abnehmen – 13a359ec7a1ffa20

„Die Welt“ (Berlin)

„Im Moment geht es um wenige Hundert Migranten, die Deutschland zusätzlich aufnehmen muss. Aber sollte ihre Zahl eines Tages wieder massiv anwachsen, wäre die Aufnahme von einem Viertel der Menschen durchaus eine mächtige, vielleicht übermächtige Herausforderung für die Gesellschaft und den sozialen Frieden. Dass in der Vergangenheit Deutschland etwa 25 Prozent der aus Seenot Geretteten übernommen hat, erfordert es nicht, aus der bisherigen Praxis ein dauerhaftes Prinzip zu machen. So, wie es Angela Merkel 2015 unterließ, den Ausnahmecharakter ihrer Entscheidung deutlich zu machen, klingt auch Seehofers Ankündigung eher nach genereller Zusage als nach Kompromiss in einer besonderen Situation. Das droht bei Migranten und Schleppern als falsches Signal anzukommen.“

„Frankfurter Rundschau“

„Horst Seehofer ist immer für Überraschungen gut. Vergangenes Jahr lieferte sich der Innenminister ein erbittertes Gefecht mit Kanzlerin Angela Merkel über die Zurückweisung von Flüchtlingen an den Außengrenzen. Jetzt stellt er die Aufnahme von einem Viertel der in Italien anlandenden Bootsflüchtlinge in Aussicht. Und das ist gut so. Es ist richtig im Interesse der Menschen, die von privaten Rettungsschiffen aus dem Meer gefischt werden und dann nicht wissen, wie es weitergeht. Das ist ein unhaltbarer Zustand und ein Offenbarungseid der EU, die die Rettungsmission ‚Sophia‘ gestoppt hatte. Seehofers Angebot ist auch richtig, weil es Druck von der italienischen Regierung nimmt. Der ehemalige Innenminister Matteo Salvini wollte Flüchtlinge abwehren. Nachfolgerin Luciana Lamorgese will das ändern. Sie zu unterstützen ist notwendig. Auch weil Italien massive wirtschaftliche und finanzielle Probleme hat. Die EU kann also viel tun, um das Abdriften des Gründungsmitglieds zu verhindern.“

„Neue Osnabrücker Zeitung“

„Deutschland will künftig ein Viertel aller Bootsflüchtlinge aufnehmen – das treibt den Puls der Migrationskritiker in die Höhe. Doch rechtfertigt das einen Aufschrei? Wohl kaum. Was Seehofer nun anbietet, ist längst Realität. Heißt in Zahlen: Seit Juni 2018 sind lediglich 565 gerettete Flüchtlinge aus Italien nach Deutschland gekommen. Viel zu lange hat die EU die Seenotrettung und das Ertrinken von Tausenden in den Mittelmeeren angeschaut, ohne eine adäquate Lösung zu präsentieren. Das Angebot Deutschlands und vier weiterer Staaten ist deshalb überfällig. Es ist jedoch nicht ausreichend, einen Teil der Flüchtlinge aus Seenot zu retten und sie gleichmäßig auf die Länder zu verteilen. Darüber hinaus hilft nur, die Fluchtursachen vor Ort zu bekämpfen – am besten sofort.“

„Der Tagesspiegel“ (Berlin)

„Viel wichtiger als eine vorübergehende Lösung zur Aufnahme von Migranten aus Italien, so dringend sie auch ist, erscheint aber etwas anderes: ein echter, dauerhafter Verteilmechanismus, der auch Staaten wie Ungarn oder Polen miteinbezieht. Wenn die von Seehofer angestrebte Lösung erst einmal greift, könnte eine solche grundlegende Reform des EU-Asylsystems noch weiter in die Ferne rücken.“Flüchtlinge Ägäis 1325

„Neues Deutschland“ (Berlin)

„Sollte ein Verteilmechanismus mit deutscher Beteiligung zustande kommen, wäre dies eindeutig ein Schritt in die richtige Richtung. Das mittlerweile dutzendfach erlebte Rumgeschachere auf Kosten der Bootsflüchtlinge mitsamt der wochenlangen Zitterparteien vor Europas Küsten war würdelos und menschenverachtend. Mit einem EU-weiten Verteilmechanismus ist es jedoch nicht getan. Schutzsuchende würden auf der lebensgefährlichen Mittelmeerroute weiterhin ihr Leben riskieren und ertrinken. Zu einer wirklichen Änderung der Migrationspolitik gehören eine Entkriminalisierung der zivilen Seenotretter, ein Ende der Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache, ein staatlich organisiertes Seenotrettungsprogramm sowie legale Wege nach Europa. Ohne dies bleibt die tödliche Festung bestehen.“

„Neue Rhein/Neue Ruhr Zeitung“ (Essen)

„Das erbärmliche Gezerre um jedes Schiff, das mit Flüchtlingen an Bord versucht, einen italienischen Hafen anzusteuern, war nicht nur aus moralischer Sicht verwerflich und eines Europas unwürdig, das so gern auf seine christlichen Wurzeln verweist. Es hat vor allem dem früheren italienischen Innenminister Matteo Salvini und seiner rechtsradikalen Lega Aufwind verschafft. Salvini ist nicht nur Fremdenfeind, sondern zudem ein ausgewiesener Gegner der Europäischen Union, die derzeit ohnehin in schwerem Fahrwasser ist. Ein Italien, das sich von der Gemeinschaft abwendet, wäre eine Katastrophe für die EU. Also ist es klug, Salvini und seine Gefolgschaft nicht noch weiter aufzumunitionieren, sondern solidarisch mit Italien zu sein. Gleichwohl geht Seehofer das Risiko ein, dass die deutschen Rechten aus seinem Vorhaben Nektar für die anstehenden Wahlen in Thüringen saugen werden. Aber so ist das derzeit wohl: Dämmt man die Gefahr von rechts an der einen Stelle ein, brennt es an einer anderen.“

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