Sie werden verprügelt, vernachlässigt, gequält, getötet. Ihre Namen sind Yağmur, Kevin, Leonie oder Chantal: Kinder, denen schweres Leid zugefügt wurde – quasi unter den Augen deutscher Behörden. Die bekannten Fälle der vergangenen Jahre sind dabei nur die Spitze eines riesigen Eisbergs an Kinderleid: Jedes Jahr werden nach Zahlen des Bundeskriminalamtes Hunderte ins Krankenhaus geprügelt oder geschüttelt. Tausende durchleiden sexuelle Misshandlungen. Dutzende sterben.
Erst am Donnerstag (9. Januar) wurde der Stiefvater der sechsjährigen Leonie aus Torgeolow in Mecklenburg-Vorpommern zu lebenslanger Haft wegen Mordes verurteilt. Er hatte sie nach Überzeugung des Gerichts immer wieder mit Schlägen und Tritten malträtiert – bis zu ihrem Tod. Auch hier hatte das Jugendamt Hinweise auf die Kindeswohlgefährdung.
Im vergangenen Jahr schockierte der Missbrauchsskandal von Lügde die Republik. Mindestens drei Männer um den Dauercamper Andreas V. haben über Jahre hinweg mindestens 40 Kindern sexualisierte Gewalt angetan, obwohl den Behörden Warnsignale vorlagen.
Kämpfer für Kinderrechte im stern-Interview
Für Rainer Rettinger sind Fälle wie diese nicht überraschend – der Geschäftsführer des Deutschen Kindervereins in Essen sagt: „Wir wollen es nicht hinnehmen, dass die Zahl schlecht geschützter Kinder in unserem Land so alarmierend hoch ist. Der Kinderschutz gehört an die erste Stelle, auch vor und gegen die Eltern, wo es nötig ist.“
Imstern-Interview prangert er eklatante Mängel im deutschen Kinderschutz an. Es fehle an Geld, an Personal und vor allem an Wissen. Rettinger sagt, was sich in Deutschland in Sachen Kinderschutz dringend ändern muss, bevor wieder ein Kind stirbt. Und er erklärt, warum die Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz mehr als nur ein symbolischer Akt wäre.
Herr Rettinger, der Deutsche Kinderverein bezeichnet sich selbst als „Lobbyverein“ für Kinder. Warum brauchen Kinder in Deutschland Lobbyisten?
Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Jeden dritten Tag wird in Deutschland ein Kind getötet. 136 waren es insgesamt 2018. Wir haben jeden Tag elf Kinder, die krankenhausreif geschlagen werden. Jeden Tag werden 41 Kinder sexuell missbraucht. Diese Zahlen und das dahinter vermutete Dunkelfeld dürfen die Gesellschaft, dürfen die Politik, dürfen niemanden von uns ruhig schlafen lassen. Das war der Anlass von sieben Freunden, den Verein zu gründen und sich auf das Thema Kinderrechte zu konzentrieren. In erster Linie wollen wir dabei Impuls- und Ratgeber sein für Juristen, für die Medizin, für die Politik, für die Jugendämter, für Kinderschützer und unsere Positionen vor den politischen Gremien vertreten.
InfoZu ihren Unterstützern gehören dabei nicht nur Prominente(siehe Kasten), sondern auch ausgewiesene Fachleute in Sachen Kinderschutz.
Wir arbeiten unter anderem sehr eng mit Professorin Maud Zitelmann zusammen, eine der wenigen Wissenschaftlerinnen in Deutschland, die Kinderschutz und Jugendhilfe lehren. Und auch mit den Rechtsmedizinern Michael Tsokos und Saskia Etzold von der Charité in Berlin kooperieren wir. Von dort können wir uns Expertise einholen, wenn etwa Eltern den Verdacht haben, dass ihr Kind misshandelt wurde, oder wenn wir unsere Positionen vertreten.
Was fordern Sie?
Im Gegensatz zur Bundesjustizministerin wollen wir zum Beispiel im Interesse der geschädigten Kinder, dass Kindesmissbrauch im Strafrecht nicht verjähren darf.
Wie Mord …
… weil viele Opfer erwiesenermaßen erst nach 20, 25 oder 30 Jahren reden können und ein Leben lang unter den Taten leiden. Wir haben Kontakt zu einem Opfer aus Lügde, das im Alter von elf bis 17 Jahren mehrfach vergewaltigt wurde und diese schrecklichen gewaltvollen Erlebnisse verdrängte (Amnesie). Die inzwischen junge Frau hat es zwar ihrer Mutter gesagt, aber die Mutter hatte zu Hause nichts zu melden, der Vater hat die Vorwürfe schlicht nicht geglaubt. Und als das Opfer endlich reden konnte, war der Fall verjährt. Dann ist die junge Frau zu uns gekommen.
Juristisch konnten Sie ihr nicht mehr helfen …
Es konnte nur noch darum gehen, dass sie ihre Geschichte erzählen kann, dass sie selbst reden kann. Es gibt ein Zitat unseres Botschafters, Ex-Fußballer Roman Weidenfeller: „Stell dir nur eine Sekunde vor, es wäre dein Kind.“ Damit ist eigentlich alles gesagt: Missbrauch darf niemals verjähren.
So perfide es klingt, die Täter von Lügde wären also davongekommen, hätten Sie keine weiteren Taten begangen …
Das hört sich schlimm an, aber es stimmt. Nur durch die Vielzahl von Strafanzeigen, die wegen der Taten aus der jüngeren Vergangenheit gestellt wurden, gab es dann eine Verurteilung.
Wie geht es der jungen Frau heute? Kann es für die Opfer sexualisierter Gewalt an Kindern wieder Normalität geben?
Hier will ich noch eine Botschafterin unseres Vereins zitieren, die Schriftstellerin Lilly Lindner. Sie hat selbst Missbrauch erlebt und sagt: „Es ist merkwürdig zu sterben, ohne danach tot zu sein.“ Es ist eine unvorstellbare Belastung, die die Opfer oft ein Leben lang begleitet. Es ist der Verlust von Lebensfreude, sie können kaum Vertrauen zu anderen Menschen aufbauen. Der Lebensmut schwindet.
Bis hin zu Suizidgedanken?
Unter Umständen schon. Wir haben Kontakt zu einem jungen Mann. Er wurde im Kindesalter von seinen Adoptiveltern misshandelt, auf schwerste Weise. Inzwischen ist er Mitte 20, wirkt völlig normal, ist intelligent. Eines Abends schrieb er mir eine Whatsapp-Nachricht. „Lieber Herr Rettinger, ich lag ein paar Tage auf der Intensivstation. Ich wollte mich umbringen. Hat aber nicht geklappt.“ Irgendwann können Opfer derart von ihrer Vergangenheit eingeholt werden, dass sie keinen anderen Ausweg mehr sehen. Dieser junge Mann hat aber gottseidank wieder Kraft gefunden.
Was kann dabei helfen?
Er hat zum Beispiel einen Verein gegründet und setzt sich für Opfer von Misshandlungen ein. Er hat eine Aufgabe für sich gefunden. Das hilft ihm, aber es gibt keine generelle Antwort darauf, was anderen hilft. Das ist individuell verschieden. Der eine will über das Erlebte sprechen, andere wiederum überhaupt nicht.
Wenn die Taten vor Gericht kommen, müssen die Opfer in der Verhandlung über ihre Erlebnisse reden, sie sind schließlich oftmals die einzigen Zeugen.
Die Opfer kommen so von einem Trauma ins nächste. Das ist eine wahnsinnige Belastung. Daher ist eine weitere unserer Forderungen, dass Kinder nach ihrer Aussage bei der Polizei nicht noch einmal unter Beobachtung von Richter und Täter über ihre entwürdigenden und traumatischen Erfahrungen aussagen müssen.
Was schwebt Ihnen vor?
Würden Aussagen zu Misshandlungen und sexuellem Missbrauch in Zukunft nur in begründeten Ausnahmefällen – zum Beispiel bei einer nachweislichen Manipulation des Kindes – infrage gestellt werden, könnten die Kinder bei der Polizei vom Kinderpsychologen vernommen und das schriftliche Protokoll der Vernehmung im Verfahren verwendet werden.
Kommen wir zurück zu Lügde – ein in der öffentlichen Wahrnehmung herausragender Fall. Hat Sie das Ausmaß überrascht?
Das Ausmaß ist grauenhaft, ganz klar. Aber überraschend ist es nicht. Denken sie nur an die bis zu 900 in der Odenwaldschule missbrauchten Kinder und Jugendlichen, deren Täter ebenfalls straffrei ausgingen. Wir vom Deutschen Kinderverein stellen uns aber eine andere Frage: Kann es sein, dass wirklich niemand etwas mitbekommen hat? Da sagen wir und auch viele Wissenschaftler: Nein, es muss Zeichen gegeben haben.
Inwiefern?
Die Kinder senden Zeichen. Man muss sie nur sehen und verstehen.
Welche Signale sind das?
Das können Fähigkeiten sein, die ein Kind hatte und plötzlich nicht mehr hat. Es können Schlafstörungen sein oder gravierende Verhaltensänderungen. Kinder verarbeiten auch das Erlebte im freudlosen Nachspielen des Traumas. Diese Signale können Eltern erkennen, aber natürlich auch die Fachkräfte, zum Beispiel in Kitas.
Warum werden die Zeichen dennoch oftmals übersehen?
Es ist fehlende Ausbildung. In der pädagogischen Ausbildung wird das Fachwissen nicht vermittelt, das nötig ist, um das Vorgehen von Tätern und Täterinnen zu verstehen und zu erkennen. Überspitzt gesagt sind heute viel zu viele Laien in dem Bereich tätig. Das ist sehr bedenklich. Deshalb ist eine der Kernforderungen unseres Vereins: Kinderschutz muss zum Pflichtfach werden für alle, die mit Kindern arbeiten. In der Erzieherausbildung, im Studium Soziale Arbeit, in der Pädagogik, in der Ausbildung für das Familiengericht, im Psychologiestudium und in der Ausbildung von Kinderärzten. Die Hälfte der einschlägigen Studiengänge in Deutschland weist im Vorlesungsverzeichnis kein Lehrangebot zum Kinderschutz auf.
Mangelndes Wissen ist einer der Gründe für das, was in Lügde geschehen ist?
Ja. Die fehlende Ausbildung führt zwangsläufig zu Fehleinschätzungen. Aber wir haben auch gesehen, dass alle Beteiligten viel zu lasch mit der Situation umgegangen sind. Man stellt sich natürlich die Frage, wie man ein Kind in einem Campingwagen leben lassen kann. Und das ist ja nur der Anfang. Später sind Datenträger verschwunden, eine Akte im Jugendamt wurde manipuliert. Es haben unendliche viele Menschen versagt.
Führt nicht auch die vielfach beklagte und dokumentierte Überlastung von Jugendämtern zu Fehlern?
Ja, es fehlt in vielen Jugendämtern massiv an Personal, an Ausstattung, an Dienstwagen, an Mitarbeitern. Einige Fachkräfte betreuen bis zu hundert Familien, mit einer entsprechenden Anzahl an Kindern. So soll Kinderschutz gewährleistet werden? Das geht nicht. Das furchtbare Zusammenspiel aus fehlender Qualifikation und schlechter Ausstattung erklärt auch die hohe Zahl getöteter Kinder, deren Familien bereits unter Aufsicht des Jugendamtes standen.
stern Reportage: Frau Leppin und ihre Kinder 12.22
Beispielsweise die dreijährige Yağmur, die Ende 2013 in Hamburg von ihrer Mutter zu Tode misshandelt wurde. Trotz erheblicher Warnsignale wurde sie vom Jugendamt von der Pflegemutter zurück an die leiblichen Eltern gegeben.(Lesen Sie hier im stern mehr zu dem Fall.)
Nach unserer Beobachtung gibt es in vielen Jugendämtern einen starken Sog zur Identifikation mit den Eltern und deren schweren Lebensumständen. Dabei gerät das Kind sehr oft aus dem Blick und wird eigentlich fast gar nicht mehr wahrgenommen, es wird nahezu unsichtbar. Dabei sollte es eigentlich ja um die Kinder gehen. Der Fall Kevin ist ein weiteres Beispiel.
… der Bremer Junge, der 2006 im Alter von zwei Jahren von seinem drogenabhängigen und vorbestraften Ziehvater getötet wurde. (Lesen Sie hier im stern mehr zu dem Fall.)
Ja, es gab zahlreiche Warnungen und Verletzungsspuren, aber man wollte daran glauben, dass der Vater sich liebevoll um den Jungen kümmere. Ja, das hat er vielleicht auch manchmal. Aber derselbe Vater hat dem kleinen Kind mehrfach die Knochen gebrochen, ihn wahrscheinlich auch missbraucht und letztendlich tot in einen Kühlschrank gezwängt. Dieser anscheinend liebevolle Vater. Das kann geschehen, wenn man an der Ideologie festhält, dass Eltern mit Beratung und Hilfe der Jugendhilfe erziehungsfähig werden können, selbst wenn nichts, aber auch gar nichts, dafürspricht.
Sie haben der damaligen Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) 2015 ein Konzept vorgelegt, das auf eine Reform und Zertifizierung der Jugendämter abzielt. Wie war die Reaktion?
Wir sind sehr enttäuscht worden. Frau Schwesig hat gesagt, sie finde unsere Ideen wunderbar, sie hätte über etwas ähnliches auch nachgedacht, aber sie könne nichts tun. Das sei Ländersache. Und das war’s dann.
Also 16-mal Klinkenputzen?
Wir haben dann in Nordrhein-Westfalen angefangen und festgestellt, dass es 186 Jugendämter in NRW gibt, die alle unterschiedlich arbeiten. Es gibt kein einheitliches Verfahren, es gibt keinen einheitlichen Kinderschutzbogen und, und, und. FDP-Familienminister Stamp stimmt uns zu, sagt aber: „Das ist Sache der Kommunen.“ Daran kann man verzweifeln. Eigentlich ist es klar, dass kein Politiker das Thema ernsthaft anpackt. Es ist viel zu aufwendig. Dass niemand den Mut und die Kraft hat, dieses dicke Brett zu bohren, ist das Traurige.
Pauschalisieren Sie in der Frage nicht? Wenn Sie sagen, jedes Jugendamt arbeitet anders, wird es ja auch solche geben, die gut oder gar vorbildlich arbeiten …
Sicherlich. Es gibt Jugendämter, die hervorragend arbeiten, und solche, die weniger hervorragend arbeiten, um es diplomatisch auszudrücken. Wir bräuchten mehr mutige Mitarbeiter von Jugendämtern, die auf Missstände hinweisen und sagen: „Hier stimmt was nicht!“ Nur so kann sich etwas ändern – und zwar, bevor dort das nächste Kind stirbt.
Kann die geplante Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz den Kindern wirklich helfen, die Situation zu verbessern, oder wäre das nur ein symbolischer Akt?
Natürlich würde der Schritt etwas bewegen. Nehmen wir nur die Familiengerichtsbarkeit, deren Beschlüsse oft eher an den Elternrechten als an den Rechten gefährdeter Kinder auf dauerhaften Schutz vor ihren Peinigern orientiert sind. Würden die Kinderrechte im Grundgesetz stehen, wären sie verpflichtet, das Kind im Fokus zu haben. Es kommt aber natürlich auf die Formulierung des Artikels an. Ich glaube, man wird für den jetzt vorliegenden Entwurf im Bundesrat die notwendige Mehrheit nicht bekommen.
Wieso nicht?
Die Grünen – unter anderem Hamburgs Justizsenator Till Steffen – haben sich bereits sehr kritisch dazu geäußert und sind an elf Landesregierungen beteiligt. Leider geht der familienpolitische Sprecher der CDU, Marcus Weinberg, inhaltlich nicht auf die Kritik ein.
Im vorliegenden Entwurf heißt es unter anderem: „Das Wohl des Kindes ist bei allem staatlichen Handeln, das es unmittelbar in seinen Rechten betrifft, angemessen zu berücksichtigen“. Für Justizministerin Christine Lamprecht eine „ausgewogene Formulierung“.
Für mich ist es eine sehr schwache Version. Mit dem Entwurf wird die UN-Kinderrechtskonvention missachtet. Darin heißt es nicht, dass das Wohl des Kindes „angemessen zu berücksichtigen“ sei, sondern eindeutig, dass es vorrangig zu berücksichtigen ist, also vor dem Wohl der Eltern.
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