Das Nazar-Auge aus der Türkei hat sich längst zu einem weltweit beliebten Schmuckstück entwickelt. Professor Ekmel Gecer erklärt, warum der Talisman so tief in der türkischen Kultur verwurzelt ist und was es mit dem „bösen Blick“ auf sich hat.
Schwarze Pupille, hellblaue Iris, weißer Kreis, kobaltblauer Hintergrund. Das Nazar-Auge mit seinem charakteristischen Farbverlauf ist omnipräsent in der Türkei. Der beliebte Talisman, der vor dem „bösen Blick“ schützen soll, schaut an nahezu jeder Ecke auf die Menschen herab. Er schmückt Hausfassaden, Autospiegel und Kinderwagen. Man trägt ihn als Schmuck um den Hals, am Arm oder am Schlüsselbund. Selbst Kühen wird manchmal ein Nazar-Auge umgehängt.
Längst hat das blaue Auge auch außerhalb der Türkei Gefallen gefunden. Im Westen ist das abergläubische Symbol vor ein paar Jahren zu einem Modetrend geworden – seitdem gibt es das Nazar-Auge sogar als Emoji auf der Handy-Tastatur. Während das Amulett hierzulande hauptsächlich als Deko-Objekt genutzt wird, ist der Glaube an den „bösen Blick“ in der Türkei immer noch weit verbreitet. Ekmel Gecer, außerordentlicher Professor für Sozialpsychologie an der Marmara-Universität in Istanbul, erklärt im Gespräch mit dem stern, was er mit dem Mythos auf sich hat.
Das Nazar-Auge soll vor Neid und Missgunst schützen
Das abergläubische Amulett hat im Orient eine lange Tradition, die mehrere Jahrtausende zurückreicht. Im Türkischen heißt der Talisman „Nazar Boncuğu“. Das Wort „nazar“ kommt aus dem Arabischen und bedeutet „jemanden oder etwas anstarren“ oder „anschauen“, erklärt Ekmel Gecer, zu dessen Forschungsschwerpunkten unter anderem Sozial- und Humanwissenschaften und Kulturpsychologie gehören. „Boncuk“ heißt „Perle“. Das Nazar-Auge ist übersetzt also die „Perle des Blicks“.
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Im allgemeinen Sprachgebrauch werde das Auge jedoch meist als „böser Blick“ bezeichnet, was laut dem Experten „darauf hinweist, wofür „Nazar Boncuğu“ verwendet wird“: Zum Schutz vor einem Fluch, der in Neid und Missgunst wurzelt und mit dem „bösen Blick“ übertragen wird. „Wenn man eifersüchtig auf etwas oder jemanden schaut, kann der Blick dieser Person oder dieser Sache Schaden zufügen“, sagt der Professor. Dabei soll über die Augen eine Art Hypnose stattfinden. Folgen des böswilligen Blicks können Verletzungen, Krankheit, kleinere Unglücke und endlose Pechsträhnen sein. So besagt es der Volksglaube.
„Der Glaube an den ‚bösen Blick‘ ist uralt und allgegenwärtig“, heißt es in der „Encyclopedia Britannica„. Der genaue Ursprung des Mythos lässt sich nicht feststellen. „Der Glaube an die negative Wirkung des ‚bösen Blicks‘ soll im alten Ägypten entstanden sein“, berichtet Ekmel Gecer. Andere meinen, dass die Wurzeln des „bösen Blicks“ in Mesopotamien liegen. Auch „Indien und Pakistan haben sehr ähnliche Kulturen“, sagt der Professor. Ebenso ungeklärt sei die Frage, ob der Volksglaube sich aus einem religiösen und kulturellen Zusammenhang entwickelt hat. „Religion, Kultur und ethnische Zugehörigkeit werden bei dem Thema vermischt.“
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Gewiss ist, dass es sich größtenteils um einen Aberglauben handelt – und dass dieser sich auf der ganzen Welt verbreitet hat. Der Glaube an den „bösen Blick“ erstreckt sich über Kulturen und Generationen hinweg. Im antiken Griechenland und in Rom, in buddhistischen und hinduistischen Traditionen, bei indigenen Stämmen bis in die Neuzeit hat nahezu jedes Volk eine eigene Legende um den „bösen Blick“.
In der Türkei geht die Tradition des „bösen Blicks“ laut Ekmel Gecer vermutlich auf eine Zeit zurück, in der das Volk noch als Nomaden lebte, eine Zeit „bevor die Türken dem Islam begegneten“. Schon damals hätten die Menschen winzige Steine als Amulett um den Hals getragen, um sich vor bösen Geistern und „bösen Blicken“ zu schützen. Die Nomaden sollen diese Ketten auch ihren Pferden um den Hals gehängt haben, um schlechte Energie abzuwehren, der sie unterwegs möglicherweise ausgesetzt wären. Im Laufe der Zeit wurde der einfache Anhänger aus Stein zu dem blauen Auge. Ein typischer „Nazar Boncuğu“-Talisman wird heutzutage aus farbiger Glaspaste handgefertigt.
Blau ist die Farbe des Himmels – vor blauen Augen hatte man aber auch Angst
Das Nazar-Auge soll den neidischen Blick anderer spiegeln: „Nach dem Analogieprinzip kann die Quelle des Bösen nur durch ihr Äquivalent zerstört werden“, schreiben die Wissenschaftlerinnen Saliha Türkmenoğlu Berkan und Bilgen Tuncer Manzakoğlu in ihrer 2016 im „Turkish Online Journal of Desgin, Art and Communication“ erschienen Studie über das Nazar-Auge. Demnach soll der „böse Blick“ durch das Amulett vom eigentlichen Empfänger abgelenkt werden. „‚Nazar Boncuğu‘ wird die schlechte Energie auf sich ziehen und sie absorbieren, selbst wenn die ‚bösen Augen‘ Sie minutenlang anstarren“, erläutert Ekmel Gecer den Volksglauben. Wer sich vor eifersüchtigen Menschen schützen möchten, sollte das Nazar-Auge bei sich tragen.
Der Volksglaube besagt auch, dass farbigen (grünen und insbesondere blauen) Augen mehr Energie innewohne. Da es in der der Türkei genetisch bedingt früher kaum Menschen mit blauen Augen gab, glaubte man, dass diese außergewöhnliche Kräfte besäßen – und dass man „Kinder vor denen mit blauen Augen verstecken sollte, um sie vor bösen Geistern und Blicken zu schützen“, erzählt der Professor. Andererseits hätte die Farbe auch „das Göttliche, das Unendliche“ symbolisiert, da Blau in der altbyzantinischen Kultur als heilige Farbe des Himmels galt. „Blau gibt den Menschen ein Gefühl von Frieden, Ruhe, Sicherheit“, sagt der Experte. Die Farbe spiegelt den Gegensatz wider, der „Nazar Boncuğu“ ausmacht: Der Talisman und seine Farbe stehen für den „bösen Blick“ , gleichzeitig aber auch für den Schutz davor.
Religion und Kultur überschneiden sich im Glauben an den „bösen Blick“
Die Religion habe den Volksglauben zusätzlich verstärkt. „Als die Türken zum Islam konvertierten, fanden sie eine ähnliche Kultur vor“, berichtet Ekmel Gecer. „Der ‚böse Blick‘ ist real, und wenn irgendetwas den göttlichen Beschluss übertreffen würde, dann wäre es der böse Blick“, soll der islamische Prophet Muhammed gesagt haben. Die schlechte Energie, die von einem Blick ausgehen kann, sei Bestandteil von mehreren Erzählungen des Propheten. Ein weiterer Vers im Koran rufe dazu auf, Zuflucht bei Allah vor den schädlichen Einflüssen der Neider zu suchen.
„Ich denke, dass Volksglaube und Islam sich dem bösen Blick aus unterschiedlichen Perspektiven nähern“, sagt Ekmel Gecer. „Nazar Boncuğu“ oder Amulette gebe es im Islam nicht. Der Volksglaube sei daher eine erweiterte Form des von Muhammed erwähnten „bösen Blicks“. „Diese Erweiterung nahm die Form eines Aberglaubens an, der fast alle Teile und Phasen des Lebens umfasst“, erläutert der Professor. Die Schnittmenge aus Kultur und Religion haben das Nazar-Auge zu einem tief verwurzelten Element der türkischen Identität werden lassen: „Wenn etwas Kulturelles der Religion entspricht oder umgekehrt, wird es viel mächtiger.“
Viele glauben an den bösen Blick, aber nicht an den Schutz des Nazar-Auges
Bis heute glauben viele Menschen in der Türkei an den „bösen Blick“, vor dem man sich wappnen muss. Das zeigt beispielsweise die Studie von Saliha Türkmenoğlu Berkan und Bilgen Tuncer Manzakoğlu. In einer Befragung, die die Forscherinnen durchgeführt haben, bestätigten 84 Prozent der 122 Teilnehmer, dass sie an den „bösen Blick“ glauben. 72 Prozent gaben zudem an, dass sie sich vor dem Fluch schützen. Nur 17,8 Prozent greifen dabei jedoch auf das Nazar-Amulett zurück. Die Mehrheit (41,8 Prozent) gab an, den „bösen Blick“ mit Hilfe von Gebeten abzuwehren. Viele halten den „bösen Blick“ für real, nicht jedoch die Schutzwirkung von „Nazar Boncuğu“, bekräftigt Ekmel Gecer.
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Trotzdem habe das Nazar-Auge einen hohen emotionalen Wert, weil es Kultur und Tradition symbolisiert. Für viele Menschen sei der Talisman zudem eine Möglichkeit, ihre Vorfahren zu ehren, so der Professor. „Deshalb tragen manche Menschen es in ihren Taschen, andere nutzen es als Teil eines größeren Accessoires und wieder andere hängen es an die Wand ihres Eingangs oder an Innenwände.“ Da der „böse Blick“ die Menschen laut dem Volksglauben überall treffen und ihnen Leid zufügen kann, ist das Nazar-Amulett an vielen Stellen im alltäglichen Leben zu finden. Diejenigen, die dem Talisman tatsächlich eine Schutzfunktion zuschreiben, glauben manchmal auch, dass ein kaputtes Auge – wenn er zum Beispiel runterfällt und zerbricht – seinen Dienst getan und den Fluch erfolgreich absorbiert hat, so der Experte.
Wie man sich im Alltag gegen den „bösen Blick“ wappnen soll
Der Glaube an den „bösen Blick“ ist so tief in der türkischen Kultur verwurzelt, dass er sich auf das individuelle Verhalten im Alltag auswirken kann. Um das Unheil zu vermeiden, sei es wichtig, sich entsprechend zu verhalten, erklärt der Professor. Als „envy-avoidant behavior“ („neidvermeidendes Verhalten“) beschreibt es die Illustratorin Eda Uzunlar in der „Washington Post„. Da der Neid meist durch Erfolg, Wohlstand oder Schönheit ausgelöst wird, sei es laut Ekmel Gecer „besser, keine so glitzernden Kleider zu tragen, bescheiden und nicht besonders attraktiv zu sein und Angeberei zu vermeiden“. Man sollte weniger soziale Medien nutzen – oder zumindest nicht alles teilen. „Follower könnten neidisch auf das sein, was wir posten, und das kann dazu führen, dass schlechte Energien auf uns zukommen und uns schaden“, lautet die wohl modernste Variante des alten Volksglaubens.
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Frauen, die schwanger sind oder kurz vor der Hochzeit stehen sowie Tiere und Kinder gelten als besonders anfällig für den „bösen Blick“. Wenn man Komplimente hört („Sie haben aber ein süßes Kind“) sollte man danach besser „Maşallah“ („Allah hat es gewollt“) oder „Barakallah“ („Allahs Segen sei mit ihm/ihr“) sagen, um sich damit vor der schlechten Energie zu schützen, die die Worte möglicherweise in sich tragen, erklärt der Professor. Er betont, dass viele Menschen sich dem Unglück, den ein „böser Blick“ transportieren könne, nicht bewusst seien: „Sie haben möglicherweise keine böse Absicht, aber ihre Energie kann dazu führen, dass Gegenstände kaputt gehen und Menschen beispielsweise krank werden.“
Das bunte Nazar-Auge „lässt sich leicht zu Geld machen“
Daher sollte jeder, der etwas Außergewöhnliches, Schönes oder Erstaunliches bewundert, sicherheitshalber ein Gebet sprechen. Das Nazar-Auge hingegen habe in der Religion keine Bedeutung. An seine Schutzfunktion glaubt Ekmel Gecer auch nicht. „Daher handelt es sich meist um ein tolles Dekorationsobjekt“, sagt der Experte. In der Studie aus dem „Turkish Online Journal of Desgin, Art and Communication“ wird der Talisman beschrieben als „Möglichkeit, jemandem die besten Wünsche zu überbringen, der ein neues Haus, ein neues Auto hat oder einen neuen Lebensabschnitt beginnt.“
Das Nazar-Auge ist schlussendlich auch ein Symbol dafür, „wie die Kultur monetarisiert wird“, sagt Ekmel Gecer: „Populärkultur ist ein Teil der Kulturindustrie und des Kapitalismus. Alles mit bunten Mustern, das zu alten Traditionen gehört, lässt sich leicht zu Geld machen.“
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Zudem könnten Nostalgie und der Glaube an Wunder eine Rolle spielen: „Der Wunsch, das Verborgene zu kennen, der Wunsch, das Unsichtbare zu sehen“. Sobald man den Menschen überzeuge, dass „Nazar Boncuğu“ vor negativer Energie schützt, werde es sich definitiv verkaufen, so der Professor. Dieses Marketing hat überaus erfolgreich funktioniert: Das blaue Auge hat sich längst einen festen Platz in der Populärkultur erobert. In der Türkei, in Deutschland – und im Rest der Welt.
Quellen: Encyclopedia Britannica, NDR, „Turkish Online Journal of Desgin, Art and Communication„, „Washington Post„
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