Zum 100. Jahrestag der Gründung der Türkei sollte beim Streaminganbieter Disney+ eine Serie über den Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk erscheinen. Doch Disney hat die Serie zurückgezogen. In der Türkei ist der Ärger groß. Denn hinter der Entscheidung werden armenische Interessengruppen vermutet.
Mustafa Kemal Atatürk ist in der Türkei allgegenwärtig. Sein Bildnis hängt in Wohnungen und Geschäften, ist auf Banknoten und Briefmarken abgedruckt; Denkmäler des „Gründers der modernen Türkei“ und ersten Präsidenten finden sich im ganzen Land. In der von ihm im Oktober 1923 gegründeten Republik herrscht eine personenkultartige Verehrung. Wer ihn verunglimpft, kann ins Gefängnis kommen.
Kein Wunder also, dass die Wut in der Türkei auf den US-Medienkonzern Disney groß ist. Dieser wollte anlässlich des 100. Geburtstags der Republik eine Doku-Drama-Serie über Atatürks Leben auf seiner Streaming-Plattform Disney+ veröffentlichen.
Doch am Mittwoch teilte Disney Türkei mit, dass man die „Strategie zur Verbreitung von Inhalten überarbeitet“ habe, um ein breiteres Publikum zu erreichen. Daher habe man sich entschieden, die Serie als Dokumentarfilm auf dem zu Disney gehörenden Fernsehsender Fox auszustrahlen und anschließend in zwei separaten Filmen im Kino zu zeigen. Ob diese Filme dann auch auf Disney+ zu sehen sein werden, ist unklar. Zuvor hatten türkische Medien über das Ende der Serie berichtet.STERN PAID Kabinett Erdogan 15.20
Armenier in USA forderten Absetzung der Serie über Atatürk bei Disney
In der Türkei hält man dies jedoch für einen fadenscheinigen Vorwand und beschuldigt eine andere Kraft, hinter dem Aus der Serie bei Disney+ zu stecken: armenische Lobbyverbände.
So berichteten türkische Medien, dass Armenier in den USA gegen die Ausstrahlung der Atatürk-Serie protestierten. Tatsächlich hatte das Armenian National Committee of America (ANCA) Ende Juni in einem Beitrag auf X – früher Twitter – die Absetzung der Serie gefordert. Diese „glorifiziere“ einen „Diktator und Völkermörder“, an dessen Händen das Blut von Millionen Menschen klebe. Die „Armenian Weekly“ kritisierte, Disney „beschönigt den völkermörderischen türkischen Diktator Kemal Atatürk“.
Obgleich in der Türkei von den Menschen verehrt, ist Mustafa Kemal Atatürk auch umstritten. Er wird mit der Deportation und Massenvernichtung der Armenier durch die Jungtürken zwischen 1915 und 1916 in Verbindung gebracht, obwohl er zu dieser Zeit als Oberst an den Dardanellen kämpfte. Kritiker sagen, sein neuer Staat habe die Täter des Völkermords an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs aufgenommen und die Schuld für die Massaker auf die Opfer abgewälzt. Bis zu 1,5 Millionen Armenier starben an den Folgen des Völkermordes, durch Massaker, Todesmärsche, Hunger und Durst. Der Deutsche Bundestag hat den Völkermord an den Armeniern 2016 offiziell anerkannt.
Obwohl Atatürk selbst den Genozid an den Armeniern als „Schandtat“ bezeichnete, weigerten und weigern sich die türkischen Regierungen bis heute, von einem Genozid zu sprechen.FS Häuser Türkei_16.30
Fernsehrat in der Türkei untersucht Absetzung
Der ANCA bedankte sich auf X bei allen, die seinem Aufruf an Disney gefolgt waren, die Atatürk-Serie abzusetzen. Auf „Druck des ANCA“ habe Disney+ die „umstrittene“ Serie abgesetzt.
In der Türkei könnte dem Medienkonzern deshalb nun ein Nachspiel drohen. Der Oberste Rundfunk- und Fernsehrat habe beschlossen, eine Untersuchung einzuleiten, „basierend auf der öffentlichen Information“, dass Disney+ entschieden habe, die Serie nicht auszustrahlen, sagte der Vorsitzende des Rates, Ebubekir Şahin, laut der Nachrichtenagentur AP am vergangenen Dienstag. Atatürk sei der „wichtigste gesellschaftliche Wert“ der Türkei, so Şahin.
Auch türkische Politiker schäumen vor Wut über die Entscheidung von Disney. Ömer Çelik, Sprecher der türkischen Regierungspartei AKP, nannte es eine „Schande“, dass Disney+ „dem Druck der armenischen Lobby“ nachgegeben und die Serie abgesetzt habe.
„Diese Haltung der fraglichen Plattform ist respektlos gegenüber den Werten der Republik Türkei und unserer Nation“, schrieb Çelik in einem Post auf X am vergangenen Dienstag. Er warf dem „Genozid-Netzwerk in den USA“ eine „Lügenpolitik“ vor.
Medienberichten zufolge hat sich sogar der türkische Außenminister Hakan Fidan in den Fall eingeschaltet.
Für Disney ist das Debakel um die Atatürk-Serie ein herber Schlag. Der Konzern wollte sich mit dem Serienepos über den Staatsgründer eigentlich auf dem hart umkämpften und wachsenden türkischen Streamingmarkt Fuß fassen, wie das „Handelsblatt“ berichtete.
Doch unter dem Hashtag #RespectAtatürk meldeten sich zahlreiche Menschen zu Wort und riefen zum Boykott auf. Es wird vermutet, dass der Kompromiss, die Serie auf Fox auszustrahlen, ein Versuch ist, die Wogen zu glätten. Dennoch kündigten zahlreiche Kunden an, ihre Abonnements zu kündigen. So rief der türkische Popsänger Mustafa Sandal seine Fans auf, es ihm gleichzutun und dem Streaming-Anbieter zu kündigen.
Wie es für Disney nach der Untersuchung des Rundfunk- und Fernsehrats weitergeht, ist noch ungewiss. Şahin kündigte an, die Ergebnisse „respektvoll“ der Öffentlichkeit mitzuteilen. Im schlimmsten Fall könnte Disney der Entzug der Lizenz drohen.
Quellen: Nachrichtenagenturen Anadolu, AP und Reuters, TRT World, „Daily Sabah“, „Politico“, „Akşam“, „The Armenian Weekly“, „Hürriyet Daily News“, „Neue Zürcher Zeitung“, „Handelsblatt“, Deutsche Welle, ntv, Bundeszentrale für politische Bildung, Bundesarchiv, X (Twitter)
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