In Polen ist der Sicherheitsrat zusammengekommen – aus noch nicht offiziell genannten Gründen. Auffällig ist der zeitliche Zusammenhang mit einem mutmaßlichen Raketeneinschlag im Osten des Nato-Landes. Die Lage im Überblick.
Der Vorfall – sollte er sich so zugetragen haben – nährt Befürchtungen, Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine könnte sich ausweiten. Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki rief am Dienstagabend den Sicherheitsrat zu einer Krisensitzung in der Hauptstadt Warschau zusammen. Zwei russische Raketen sollen zuvor in einem Dorf im Osten Polens eingeschlagen sein, zwei Menschen starben nach Angaben der örtlichen Feuerwehr. Bestätigt ist der Vorfall in dieser Form bisher nicht.
Die Lage im Überblick (Stand: 15. November, 23.00 Uhr, der Artikel wird fortlaufend aktualisiert):
Was ist im Osten Polens geschehen?
Die polnische Regierung machte bislang noch keine offiziellen Angaben, Regierungssprecher Piotr Müller warnte laut Nachrichtenagentur DPA vor der Verbreitung ungeprüfter Informationen. Polnische Medien berichteten zuvor, dass in der Ortschaft Przewodów im Osten des Landes an einem landwirtschaftlichen Betrieb zwei Raketen eingeschlagen seien. Fotos von vor Ort zeigten einen Krater neben einem umgestürzten Anhänger eines Traktors. Ob tatsächlich russische Geschosse, wie unter anderem die Nachrichtenagentur Associated Press berichtete, für die mutmaßliche Detonation verantwortlich sind, oder zum Beispiel die ukrainische Luftabwehr oder es gar eine ganz andere Ursache gibt, ist noch unklar. Die polnische Regierung äußerte sich bisher noch nicht dazu. Das Pentagon in Washington erklärte am Dienstagabend, es habe noch keine Informationen. „Wenn wir ein Update zur Verfügung stellen können, werden wir dies tun“, sagte ein Sprecher.
Das Dorf Przewodów ist nur siebeneinhalb Kilometer von der Grenze zur Ukraine entfernt. Am Dienstag hatte die russische Armee nach ukrainischen Angaben mit Dutzenden Raketen und Marschflugkörpern Ziele in der ganzen Ukraine angegriffen – auch im Westen des Landes. Bei dem Vorfall in Przewidów sind laut Feuerwehr zwei Menschen gestorben.
Wie reagiert Polen?
Am späten Dienstagabend sagte ein Sprecher Müller in Warschau, dass Polen einen Teil seiner Streitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft versetze. Die Untersuchungen zur Ursache der Explosion liefen noch. „Wir haben beschlossen, zu prüfen, ob es Gründe gibt, die Verfahren nach Artikel 4 des Nordatlantikvertrags einzuleiten“, erklärte er weiter. Eine solche Entscheidung war zunächst jedoch noch nicht gefallen.
Artikel 4 der Nato sieht Beratungen der Mitgliedstaaten vor, wenn einer von ihnen die Unversehrtheit seines Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die eigene Sicherheit bedroht sieht. Von einem Angriff auf Polen sprach Müller ausdrücklich nicht. Es hatte in der Vergangenheit immer wieder Befürchtungen gegeben, dass russische Flugkörper auch irrtümlich auf dem polnischen Territorium einschlagen könnten.
Wie sagt Russland zu dem Vorfall?
Über die staatlich kontrollierten Nachrichtenagenturen Ria Novosti und Tass wies das russische Verteidigungsministerium jedwede Verantwortung für den Vorfall zurück. Entsprechende Berichte seien eine „Provokation mit dem Ziel einer weiteren Eskalation“, hieß es. Es habe keinerlei Angriffe Russlands auf Ziele in der Nähe der polnisch-ukrainischen Grenze gegeben.
FS Rückeroberung Cherson 13.33
Wie reagiert die Nato?
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock erklärte, die Bundesregierung verfolge die Lage nach den Berichten über den Vorfall. „Meine Gedanken sind bei Polen, unserem engen Verbündeten und Nachbarn“, schrieb die Grünen-Politikerin auf Englisch bei Twitter. Aber auch sie hielt sich mit voreiligen Schuldzuweisungen zurück.
Abgesehen von den knappen Mitteilungen Warschaus und Washingtons sowie von Solidaritätsbekundungen anderer Staaten halten sich die Mitglieder des westlichen Verteidigungsbündnisses mit Äußerungen zunächst zurück. „Wir prüfen diese Berichte und stimmen uns eng mit unserem Bündnispartner Polen ab“, sagte ein Offizieller der DPA. Generalsekretär Jens Stoltenberg betonte: „Die Nato beobachtet die Situation, und die Bündnispartner stimmen sich eng ab.“ Vor voreiligen Reaktionen müssten erst „alle Tatsachen festgestellt werden“.
Das Verteidigungsbündnis hatte in der Vergangenheit immer wieder klargestellt, sich nicht mit eigenen Soldaten an dem seit neun Monaten andauernden Krieg in der Ukraine beteiligen zu wollen. Sollte sich nun herausstellen, dass das Nato-Land Polen tatsächlich von russischen Raketen getroffen wurde, könnte diese Haltung überdacht werden.
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Allerdings: Selbst bei einem absichtlichen – und noch lange nicht nachgewiesenen – Beschuss des Nato-Territoriums träte nicht automatisch der Bündnisfall ein. Der Nordatlantikrat – besetzt mit Vertretenden aller Mitgliedsstaaten – müsste zunächst den Angriff auf das Nato-Territorium feststellen, erst dann würde die gegenseitige Unterstützung greifen. In Deutschland müsste überdies noch der Bundestag über eine eventuelle Beteiligung der Bundeswehr an der Bündnisverteidigung entscheiden.
Vorher steht aber in jedem Fall die Aufklärung des Vorfalls in Przewodów – und die fängt gerade erst an.
Quellen: Nordatlantikvertrag, Nachrichtenagenturen DPA, AFP, AP, Ria Novosti, Tass
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