Mental Health Awareness Month: Warum wir unsere eigene mentale Gesundheit endlich ernst nehmen sollten

Das Stigma von psychischen Erkrankungen in der Gesellschaft nimmt ab. Trotzdem geben sich nach wie vor viel zu viele Menschen mit ihrem mentalen Leid zufrieden, statt zu handeln. Ein Appell zum Umdenken. 

„Wie geht es dir?“ Meistens, wenn kein offensichtliches – also körperliches – Leiden vorliegt, antworten wir auf diese Frage mit einem einfachen „Gut“. Steile These, aber oft ist das eine glatte Lüge. Wir sind dieser Tage mit etlichen Krisen konfrontiert, die so omnipräsent sind, dass sie nicht einmal einer Wiederholung in diesem Text bedürfen. Die Folge: Die Gegenwart beginnt an unserem Wohlbefinden zu kratzen.

Ein Grund mehr, endlich den Fokus auf unsere mentale Gesundheit zu legen. Und nein, damit ist nicht gemeint, was bereits seit Monaten geschieht: Mehr Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit für Depressionen und andere psychische Erkrankungen. Das ist natürlich auch richtig und wichtig – und sollte unbedingt weiter Bestandteil unseres gesellschaftlichen Miteinanders bleiben. Aber viel wichtiger ist eine andere Ebene der Aufmerksamkeit: die individuelle.

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Depressionen haben nur die anderen

Wir lesen mittlerweile regelmäßig in den Medien von Menschen, die psychische Erkrankungen haben. Und trotzdem neigen wir dazu, unsere eigene mentale Gesundheit als selbstverständlich wahrzunehmen – und eine sich ankündigende Schieflage lieber zu verdrängen, statt sich unserer Psyche anzunehmen. Die Stigmatisierung in unserer Gesellschaft wird also weniger, während das Stigma in unseren Köpfen selbst noch festsitzt.

Eine Depression? Die trifft doch nur andere. Angststörung? Ein bisschen Angst hat doch schließlich jeder. Essstörung? Quatsch, habe ich doch alles im Griff! Wir Menschen sind wahre Meister darin, unsere mentale Gesundheit so lange hintenanzustellen, bis die Seele regelrecht um Hilfe schreit. Nicht umsonst sind die Wartelisten von Psychotherapeuten in Deutschland derzeit gnadenlos überfüllt.

Wir sind, was wir denken

Experten gehen zusätzlich von einer hohen Dunkelziffer aus. Also von Menschen, die jeden Tag mit sich selbst zu kämpfen haben, aber trotzdem nicht daran denken, sich professionelle Hilfe zu suchen. Obwohl der Schlüssel zu einem besseren Leben oftmals nur einen Telefonanruf – und, zugegeben etwas Wartezeit – entfernt ist, entscheiden sich viele Menschen lieber dazu, ihr Leid einfach zu ertragen.

Klar, jeder hat mal schlechte Tage. Aber wir sollten uns trotzdem nicht damit zufriedengeben, uns von einem Tag zum nächsten Tag zu kämpfen. Niemand muss ein Leben geprägt von Erschöpfung, Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit führen. Denn das Leben hat so viel mehr zu bieten, wenn wir nur bereit sind, die Probleme anzugehen. Und ja, vor allem dann, wenn es sich dabei um Probleme handelt, die mit unserer Psyche in Verbindung stehen.

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Vielleicht kennen Sie den Spruch: “Wir sind, was wir denken.“ Er stimmt. Die Art und Weise, wie wir auf die Welt blicken, entscheidet wesentlich darüber, wie wir unser gesamtes Leben wahrnehmen und erleben. Wenn nun aber Depressionen oder Angststörungen einen dunklen Schatten über diese Wahrnehmung legen, dann wird diese wunderbar bunte, abwechslungsreiche und liebenswerte Welt, in der wir leben, schnell zu einem Horrortrip.

Wenn das Negative überhandnimmt

Ein Szenario, das derzeit viel zu viele Menschen erleben. Das liegt vor allem daran, dass es uns so schwerfällt, rechtzeitig zu handeln, wenn sich ein Schatten über die Sonnenseiten des Lebens liegt. Denn wir alle haben gelernt, dass das Leben eben kein Ponyhof ist. Es ist aber eben auch kein Schlachtfeld, auf dem es nur Verlierer gibt. Das Leben ist bunt. Leider neigen wir evolutionär bedingt dazu, vor allem das Negative zu sehen und das Positive zu übersehen.

Wenn nun aber das Negative derart überhandnimmt, dass kaum noch etwas Positives im eigenen Leben wahrgenommen wird, dann fühlt man sich in unserer heutigen Gesellschaft schnell verloren. Schließlich wird uns doch überall suggeriert, dass nur ein funktionierendes und arbeitstüchtiges Mitglied auch ein wertvoller Mensch ist. Während körperliche Leiden hier noch als “Ausrede“ für einen Ausfall toleriert werden, sieht es bei psychischen Problemen noch immer anders aus.

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Das liegt vor allem am Bild der Psychiatrie, das uns in unsere Kinderwiege gelegt wurde. Wer kennt nicht das Klischee des Verrückten in der Gummizelle, der die Kontrolle über sein Leben verloren hat? Obwohl es so unrealistisch ist, hat es sich bei vielen im Kopf festgesetzt. Das führt zu einem Grundproblem: Wer heutzutage eine psychische Erkrankung hat, der kann sich zwar auf Social Media und in den Medien vieler Vorbilder bedienen, aber oftmals trotzdem nicht akzeptieren, selbst betroffen zu sein.

Das Problem mit der Selbststigmatisierung

Die Selbststigmatisierung wiegt nicht selten zu schwer. Es ist nicht mehr nur die Akzeptanz der Existenz von psychischen Krankheiten in unserer Gesellschaft, sondern auch die Anerkennung der Tatsache, dass man jetzt eben zum Kreis der Betroffenen dazugehört. Dass man plötzlich Teil einer Minderheit ist, die mit einem für andere Menschen oftmals unsichtbaren Leiden durch die Welt spaziert. Eine Welt, die sonst vor allem auf das Sichtbare bedacht ist. Dafür braucht es vor allem Mut.

Ja, wir leben in einer harten Gesellschaft, die sich eigentlich nach mehr Sanftheit und Verständnis sehnt. Aber solange wir nicht damit anfangen, genau diese Attribute im Umgang mit anderen Menschen anzuwenden, wird sich daran vermutlich auch nichts ändern. Also: Seien Sie aufmerksam. Haben Sie Verständnis – mit sich selbst und anderen. Zeigen Sie Mitgefühl und nehmen Sie Warnsignale ernst. Nur so kann die kollektive mentale Belastung irgendwann einem gesunden und zufriedenen Miteinander weichen.

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Es ist doch so: Wir alle haben Sorgen. Wir alle haben Probleme und Ängste, die uns mitunter das Leben schwer machen. Wir hadern mit Entscheidungen, die wir getroffen haben oder eben auch nicht. Kämpfen mit Menschen, die unseren Weg gekreuzt und Wunden hinterlassen haben. Oder zaudern mit dem Leben, das wir gewählt haben. Manchmal nehmen diese normalen Gefühle allerdings Dimensionen an, die weit über das normale Maß hinausgehen. Und ja, das kann wirklich jeden treffen. Niemand ist vor Schicksalsschlägen befreit, niemand sicher vor psychischen oder körperlichen Erkrankungen.  

Wachsen Sie über sich hinaus!

Umso wichtiger ist es, dass wir achtsam mit uns selbst und miteinander umgehen. Menschen mit psychischen Erkrankungen sind nicht schwach oder weniger wert, sondern haben einfach eine Krankheit. Sobald wir wirklich verstehen und verinnerlichen, dass mentale Probleme nichts am Wert eines Menschen ändern, schaffen wir Raum für einen neuen Umgang mit den eigenen Sorgen.

Wenn es uns gelingt, den Knoten im Kopf zu lösen, wenn es um mentale Gesundheit geht, wenn wir verstehen, dass nichts Schlimmes daran zu finden ist, mit sich selbst mal nicht im Reinen zu sein und sich bedürftig und schwach zu fühlen, dann bekommen wir die Chance, an persönlichen Krisen wirklich zu wachsen. Und wer weiß, vielleicht wachsen wir dadurch ja sogar irgendwann sprichwörtlich über uns hinaus – als Individuum und als Gesellschaft.

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